Poison (German Edition)
durchzuziehen – und ja, sie sind seit dem letzten Mal wirklich etwas besser geworden, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass jetzt Yvonne das Keyboard spielt statt diesem Ronny oder wie auch immer der hieß. Dazu jetzt noch Brix, und es hört sich wirklich um Klassen besser an als all die Male zuvor.
Wir spielen fast zwei Stunden und geben zwei Zugaben, aber es kommt immer noch mehr Beifall von den wenigen Anwesenden. Als wir uns das dritte Mal bedankt haben, tritt Brix mit seinem Bass nach vorne und kündigt – im Alleingang, denn Ricardo hat nichts angesagt – die dritte und letzte Zugabe an: »Rise«, im Original von Disturb. Der auffordernde Blick, den er mir zuwirft, sagt mir deutlich, dass er will, dass ich den anderen Part singe. Aber klar doch – zumal der Text gut passt.
Mit sanfter Stimme beginne ich:
»Rise, go away
the charade of your life
let the flame of my heart burn away
your complacence tonight
I command you to rise
wash away the decay of your life
feel the light of your eyes
find the way through the darkness tonight
fearing no one«
Brix wischt mit einer theatralischen Handbewegung den Schweiß von der Stirn, bevor er in meine Richtung singt:
»Do you really think I covet like you do?
Come, take me away
remove the fear from my eyesfeel the flame of my heart
burning away
all conversation tonight
hearing no one
Am I precious to you now?
Am I precious to you now?«
Meine Stimme klingt kraftvoll, beschwörend:
»Now rise, turn away
from the shame of your life
feel the light from my eyes
offering consolation tonight
fearing no one!!!!«
Und Brix fährt in verzweifeltem Tonfall und mit entsprechender Mimik fort:
»Do you really think I want it like you do?
Come, take me away
remove the fear from my eyes
feel the flame of my heart
burning away
all conversation tonight
hearing no one
Am I precious to you now?
Am I precious to you now?«
Mein »Fearing no one!« ist wie ein Peitschenschlag durch den Raum. Kraftvoll, beschützend, aber vor allem ... mystisch – nicht, dass das beabsichtigt gewesen wäre, aber Jonas hatte gerade das Licht abgedunkelt, vermutlich um einen Eindruck der Verzweiflung aufzufangen, die Brix gerade zu schütteln scheint, als Nebelwolken über die Bühne wabern.
Brix’ Blick zeigt Erkennen:
»Savior of my soul
Am I precious to you now?
Am I precious to you...
...now, I cannot stop this
pure emotion falling from my eyes
you are vindicating, liberating
savior of my soul...«
Mhm, der Text passt wirklich – und eine schönere Liebeserklärung hätte er mir nicht machen können, finde ich – weder musikalisch, also im Text, noch persönlich. Mein letzter Part, gleichzeitig der Ausklang des Songs mit ansteigendem Ausdruck, gibt meine Bewegtheit deutlich wieder. Dabei sinke ich dann auf ein Knie und schaue Brix an, für die Außenstehenden eine gute Performance des Songs, für mich und ihn – hoffe ich – jedoch deutlicher:
»Rise, go away
the charade of your life
let the flame of my heart burn away
your complacence tonight
Fearing no one!«
Danach bin ich wie ausgepowert, höre nur noch Stille, dann Applaus, sehe Sternchen vor meinen Augen, wanke von der Bühne, setze mich in der Umkleide in einen Sessel und verliere das Bewusstsein, kippe einfach um, bin weggetreten.
Irgendwo am Ende meines Bewusstseins ist ein Licht, auf das ich zufalle, mich drehe, wende, torkele oder was auch immer, denn ich denke, ich muss wohl fliegen oder fallen, denn ich spüre an meinen Armen und Beinen keinen Widerstand, der auf eine andersgeartete Bewegung hindeuten würde. Das Kribbeln auf meiner Haut spricht zwar dagegen, aber das könnte auch der Reibungswiderstand der Luft sein – ich weiß es nicht, ich bin noch nie aus eigener Kraft geflogen oder von einem hohen Punkt nach unten gefallen. Ein bisschen später wird es kühler, ich spüre die Tropfen auf meinem Gesicht, die sanft nach unten rinnen, doch wo ist unten? Ich weiß es nicht, und als ich meine Augen öffne, sehe ich nur mehr graue Schemen, die um mich herumstehen, Menschen, die ich nicht kenne und die mir fern sind, oder Geister, wo ist da der Unterschied? Das Tuch, das meine Stirn mit feuchtem Wasser benetzt, hält allerdings ein Engel in der Hand. Brix, dessen Flügel umso durchscheinender werden, umso klarer die Gestalten um mich herum sind ... Yvonne, Jonas und der Typ, der vorhin die Bar gemacht hat, und der immer wieder
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