Poison (German Edition)

der mit höflicher Zurückhaltung – ich würde es Scheu nennen – an der Bar geblieben ist und nun in unsere Richtung schaut.
    »Komm ruhig her«, lache ich ihn an, aber nicht aus, worauf er unsere beiden Bierflaschen mitbringt und zu uns kommt.
    »Schatz, du und Alkohol, ich glaub es ja nicht!« Yvonne hat die beiden Flaschen völlig richtig gedeutet.
    »Gegen ein bisschen Alkohol ist ja nichts einzuwenden, ich mag es nur nicht, mich bis zum Exzess zu besaufen«, grinse ich Yvonne an.
    »Das muss an Berlin liegen«, meint sie zu Brix. »Früher hat er am Abend eine Kanne Kaffee alleine leer gemacht. Ich bin Yvonne, hallo. Was macht ihr denn hier?« – »Ricardo hat uns eingeladen, und da mein Mann im Musikmanagement tätig ist, habe ich ihn mitgebracht, damit er hier nicht über den Tisch gezogen wird«, erkläre ich.
    Yvonne beginnt zu strahlen. »Das ist aber toll, wartet mal, ich hol gleich mal die Jungs zusammen!« Dann dreht sie sich um und geht schnurstracks in Richtung eines Gangs.
    »Gut gemacht, junge Frau«, stichelt Brix in lobendem Ton. »Aber so schlecht ist die Idee nicht, das wird Alfaya sicher erfreuen. Also doch Bekannte von dir«, stellt er lapidar fest.
    »Na ja, Yvonne und Jonas kenn ich aus dem Poison’s, einem Laden, dem »Turm« ähnlich, den ich in Frankfurt öfter frequentiert habe, und mit Ricardo hatte ich zwei-, drei Mal Sex. Yvonne und Jonas kenn ich besser, auch wenn sie mich an einen verdammt guten Freund von mir erinnern, der vor einem dreiviertel Jahr gestorben ist. Aber auch da muss ich durch.« Mein Tonfall verrät, dass ich nicht wirklich damit klarkomme, und Brix deutet ihn – zum Glück! – richtig, umarmt und tröstet mich, schließt mich in seine Arme und schützt mich – vor mir selbst. Nein, ich brauche nicht wieder wegzulaufen.
    Nach einer Weile kommt Yvonne zurück, mit Jonas und Ricardo im Schlepptau, der ganz und gar nicht gut gelaunt zu sein scheint. Alle drei machen besorgte Mienen.
    »Hallo, Jungs«, begrüße ich die drei, wieder etwas besser drauf als vorhin. »Was ist los?«, frage ich verwundert. Ricardo mustert mich. »Anscheinend bringst du kein Glück, Shahin. Mark, unser Sänger und Bassist, hat sich gerade die Hand gebrochen. Roland hat ihn ins Krankenhaus gefahren, und ist noch nicht wieder da. Und in einer halben Stunde fängt unser Gig an. Wir können doch so nicht auftreten ... und ohne Bassist sowieso nicht. Ausgerechnet heute!!!« Stimmt, das war’s dann wirklich.
    Brix dagegen stupst mich an. »Was spielt ihr denn so?«, fragt er gelassen von hinten. »New Metal, Rock, Oldies, alles querbeet.« Ricardo klingt genervter denn je.
    »Und was genau?«, bohrt Brix nach. »Ist doch egal, oder hast du zufälligerweise einen Bassisten und Sänger in der Hosentasche?«, fragt Ricardo gereizt.
    »Zufälligerweise ja«, grinst Brix ihn an. »Ich kann nämlich Bass spielen, und das mit dem Singen werden wir wohl auch noch hinbekommen.« – »Dann fehlt uns aber immer noch Roland«, wirft eine tiefe Stimme ein – Jonas.
    »Stimmt«, meint Ricardo. »Es sei denn, Shahin singt«, schlägt Yvonne vor und umfasst meinen Unterarm. »Du kannst doch singen, und du warst oft genug bei unseren Proben – du müsstest das meiste doch kennen.« – »So machen wir’s«, entscheidet Ricardo, ohne mir Zeit zu geben, eine Entscheidung zu treffen, »kommt mit nach hinten, und Jonas kann schon mal die Anlage hochfahren.«
    Genau das wollte ich eigentlich nicht, aber Yvonne hat recht, an ein oder zwei der Songs, die Yvonne mir aufzählt, kann ich mich wirklich erinnern, und siehe da, mein Mann kann sie alle. Okay, seinen Ex-Chef wird’s tierisch ärgern, dessen ist er sich sicher. Was ich davon halte, Carlos zu treffen, ist eine andere Sache, denn dadurch, dass die beiden sich nicht grün sind, sitze ich zwischen den Stühlen. Perfekt! Was Besseres kann ich mir gar nicht vorstellen. Andererseits, so wie ich Carlos kenne, ist es ihm sicher auch nicht wichtig genug, einem Probespiel einer Newcomerband beizuwohnen, das wird sicherlich bloß ein Talentscout machen, der ihm dann berichten wird – und der kennt mich ja nicht.

73
    Shahin
     
    Stimmt, und genau so ist es auch. Kein Carlos und keine sonstigen Bekannten. Brix dagegen läuft zur Hochform auf, er ist wirklich gut, und seine Stimme ... voller Power bei den Rocksongs, schmusig, weich und zärtlich bei den Balladen, kratzig, rau und düster bei den Metal-Songs. So fällt es auch den anderen leicht, das Programm