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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Cafeteria her. In ihr Abspielgerät war also ein Mikrophon eingebaut.
    Gitarrenmusik erklang, und ein Mann begann zu singen.
     
    »Die Kehle schlitzt mir auf,
    Die Hände hackt mir ab,
    Aber meine Gitarrensaiten, die laßt heil.
    Laßt sie mich in den Dreck treten,
    Laßt sie mich unter Wasser drücken,
    Nur meine silbernen Saiten, die rührt nicht an.«
     
    Während Arkadi noch lauschte, zog er ein paar Löffel aus einer Schreibtischschublade und sah sich unter den Medikamenten nach Jod-Kristallen um. Da er keine finden konnte, suchte er als nächstes nach Jod-Tabletten. In einer Ecke stand ein Metallschrank für Strahlenmedizin - mit anderen Worten, für einen Kriegseinsatz. Er brach das Vorhängeschloß auf, indem er einen Schraubenzieher in den Schaft rammte, doch drinnen war nichts weiter als zwei Flaschen Scotch und ein Leitfaden für die erfolgreiche Anwendung von Jod und Vitamin E im Falle einer Atomexplosion. Das Jod fand er schließlich in einem unverschlossenen Schrank.
    »Sing weiter«, sagte Sina. »Noch eine Räuberballade.«
    Der Mann auf dem Band lachte und flüsterte: »Andere Lieder kenne ich auch gar nicht.«
    Arkadi konnte zwar die Stimme des Mannes nicht einordnen, aber das Lied kannte er. Es war nicht die Spur westlich angehaucht und weder von Rock noch Rap beeinflußt. Das Lied stammte von einem Moskauer Schauspieler namens Wysotski, der in ganz Rußland in der Untergrundbewegung berühmt geworden war, weil er eben jene wehmütig klagenden Balladen über Verbrecher und Sträflinge schrieb und auch selbst vortrug, begleitet von einer siebensaitigen russischen Gitarre, dem am leichtesten zu spielenden Instrument auf Erden. Per Magnatisdat, der Bandvariante des Samisdat, wurde jede seiner Weisen verbreitet, und dann hatte Wysotski seinen Ruhm endgültig dadurch besiegelt, daß er sich in noch recht jungen Jahren zu Tode gesoffen hatte. Der sowjetische Rundfunk bot in seinem Programm lediglich geistlos-seichte Musik an - »Ich liebe das Leben, ja, ich liebe es immer wieder« -, daß man hätte meinen sollen, die Hörer würden sich die Ohren verstopfen, doch in Wahrheit war kein anderes Land so abhängig und empfänglich für Musik wie die Sowjetunion. Nach siebzig Jahren Sozialismus waren die Räuberballaden zu Gegenhymnen der Sowjetunion avanciert. Der Sänger auf der Kassette war zwar nicht Wysotski, aber er machte seine Sache nicht schlecht:
    »Die Wolfshatz ist los, die Jagd geht an!
    Man hetzt sie, die grauen Räuber, alte wie junge.
    Die Treiber lärmen, die Hunde rennen sich die Seele aus dem Leib.
    Seht die Blutspuren im Schnee und die rotbeflaggten Grenzpfähle.
    Aber unsere Zähne sind stark und unsere Beine flink.
    Warum also, Rudelführer, sag an, laufen wir immer den Schützen entgegen, statt daß wir versuchen, über die Grenze zu fliehen?«
     
    Am Ende des Bandes sagte Sina: »Ich weiß, daß du keine anderen Lieder kennst. Aber gerade diese mag ich ja.« Arkadi gefiel es, daß es solche Lieder waren, die ihr gefielen. Das nächste Band jedoch brachte ganz etwas anderes. Auf einmal sprach Sina mit leiser, müder Stimme. »Modigliani hat die Achmatowa sechzehnmal gemalt. So lernt man einen Mann wirklich kennen, wenn er einen malt. Spätestens beim zehntenmal muß man doch merken, wie er einen wirklich sieht. Aber auf mich fliegen immer die falschen Männer. Keine Maler. Sie packen mich zwar, als wäre ich eine Farbtube, die sie mit einem Druck leerquetschen müßten. Aber es sind eben keine Maler.«
    Sinas Stimme konnte honigsüß klingen oder todmüde, manchmal beides in ein und demselben Satz, als spiele sie beiläufig auf einem Instrument.
    »In der Schmutzbrigade ist ein Mann, der recht interessant aussieht. Bleicher als ein Fisch. Und sein Blick ist so verschleiert wie der eines Schlafwandlers. Mich hat er überhaupt noch nicht bemerkt. Bestimmt würde es sich lohnen, ihn aufzuwecken. Aber andererseits habe ich genug von den Männern. Der eine denkt, er kann mich herumkommandieren. Der zweite denkt, er kann mich herumkommandieren. Der dritte denkt, er kann mich herumkommandieren, und mit dem vierten ist es nicht anders. Dabei weiß ich ganz allein, was ich zu tun habe.«
    Eine Pause trat ein, dann sprach sie weiter: »Die Männer sehen mich bloß an, sie können mich nicht denken hören. Sie haben mich nie denken gehört.«
    Was würden sie wohl tun, wenn sie dich hören könnten? fragte Arkadi sich unwillkürlich.
    »Er würde mich umbringen, wenn er meine Gedanken hören

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