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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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könnte«, fuhr Sina fort. »Er sagt, Wölfe paaren sich fürs ganze Leben. Ich glaube, er würde erst mich umbringen und dann sich selbst.«
    Auch auf der fünften Kassette war die Musik überspielt worden. Es begann mit dem geheimnisvollen Rascheln von Kleidern, unterbrochen durch einen gelegentlichen dumpfen Aufschlag. Dann sagte eine Männerstimme: »Sina.« Die Stimme gehörte einem jüngeren Mann, nicht dem Sänger.
    »Wo sind wir denn hier?«
    »Sinouschka.«
    »Und wenn sie uns erwischen?«
    »Der Chef schläft. Ich bestimme, wer hier ein und aus gehen darf. So halt doch still!«
    »Langsam, nimm dir Zeit. Du bist wie ein kleiner Junge. Wie hast du nur all den Kram hier runtergeschafft?«
    »Das geht dich nichts an.«
    »Ist das ein Fernseher?«
    »Zieh sie runter.«
    »Nicht so hastig.«
    »Bitte.«
    »Ich werde mich nicht ganz ausziehen.«
    »Ist doch warm hier drin. Einundzwanzig Grad Celsius, vierzig Prozent Luftfeuchtigkeit. Es ist der angenehmste Ort auf dem ganzen Schiff.«
    »Wie bist du nur an einen solchen Raum gekommen? Mein Bett ist furchtbar kalt.«
    »Ich würde trotzdem jederzeit reinsteigen, Sinouschka, aber hier sind wir ungestörter.«
    »Wozu ist denn das Feldbett da? Schläfst du hier?«
    »Wir machen häufig Überstunden.«
    »Vor dem Fernseher. Und das nennst du Arbeit?«
    »Geistige Arbeit. Aber denk jetzt nicht daran. Komm, Sinouschka, hilf mir.«
    »Bist du sicher, daß du jetzt nicht eigentlich wichtige Geistesarbeit verrichten solltest?«
    »Nicht während wir ein Netz einholen.«
    »Ein Netz! Als ich dich im Goldenen Horn kennengelernt habe, da warst du ein gutaussehender Leutnant. Und was bist du jetzt?
    Ein Langweiler, der unten im Fischraum hockt. Woher weißt du übrigens, daß wir gerade ein Netz einholen?«
    »Du redest zuviel und küßt zuwenig.«
    »Und wie gefällt dir das?«
    »Schon besser.«
    »Und das?«
    »Viel besser.«
    »Und das?«
    »Sinouschka.«
    Offenbar schaltete sich das Mikrophon akustisch ein, und Sina hatte keine Gelegenheit gehabt, es abzustellen. Wahrscheinlich trug sie das Bandgerät in der Tasche ihrer Fischerjacke, und die lag während des Gesprächs entweder unter ihr oder hing neben dem Feldbett. Arkadi hatte noch zwei Zigaretten übrig. Er riß ein Streichholz an, und die Flamme tanzte auf seine Finger zu.
     
    Er war fünf Jahre alt. Südlich von Moskau war schon der Sommer eingekehrt, und in den warmen Nächten schliefen sie alle draußen auf der Veranda. Türen und Fenster standen weit offen. Strom gab es keinen in der Datscha. Motten flogen herein und tanzten um die Lampen, so dicht, daß er immer darauf wartete, daß sie in Flammen aufgingen, wie brennende Papierschnipsel. Ein paar Freunde seines Vaters, Offiziere wie er, waren zu einem Büfett vorbeigekommen. Das von Stalin propagierte Gesellschaftsmodell sah Diners vor, die um Mitternacht begannen und im Morgengrauen in sinnloser Betrunkenheit endeten, und Arkadis Vater, einer der Lieblingsgeneräle des Führers der Menschheit, folgte diesem Stil, obgleich er, während die anderen immer betrunkener wurden, immer nur noch mehr Zorn in sich ansammelte. Und dann drehte er irgendwann das Grammophon auf und spielte wieder und wieder dieselbe Platte. Es war eine Aufnahme des Moldauischen Staatsorchesters, das General Renkos Truppen seinerzeit an die Zweite Ukrainische Front gefolgt war und jeweils am Tage nach der Befreiung von den Deutschen in sämtlichen Marktflecken aufgespielt hatte. Die Musiker waren auf Jazz spezialisiert, und auf jener Platte spielten sie den »Chattanooga Choo-Choo«.
    Die anderen Offiziere waren ohne ihre Damen gekommen, und so ließ der General sie mit seiner Frau tanzen. Das machte den Herren Freude, denn keiner von ihnen hatte eine so schlanke, hochgewachsene und schöne Frau. »Katharina, bring dich in Stimmung!« kommandierte der General. Von der Veranda her spürte der kleine Arkadi, wie die Dielen unter den schweren Stiefeln erzitterten. Die Füße seiner Mutter hörte er dagegen überhaupt nicht; es war, als wirbelten die Offiziere Mama durch die Luft.
    Am schlimmsten wurde es immer, wenn die Gäste gegangen waren. Dann legten sich die Eltern in ihr Bett hinter einem Wandschirm ganz am anderen Ende der Veranda. Zuerst das flüsternde Zwiegespräch, eine Stimme, leise und flehend, die andere so voll unterdrückter Wut, daß es ihm das Herz zusammenzog. Und dann schwankte die ganze Datscha wie eine Wippe.
    Eines Morgens saß Arkadi draußen unter den Birken beim

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