Polar Star
Sina langsam in holprigem Englisch.
»Na, ich werde dir eine Baidarka zeigen, und dann wirst du schon sehen, was ich meine. Ich werde damit um die Polar Star herumpaddeln.«
»Wenn du das tust, sollte ich aber einen Fotoapparat haben.«
»Ich wünschte, wir könnten uns noch viel mehr leisten. Weißt du, was ich am liebsten täte? Ich möchte dir die Welt zeigen. Überall würden wir hinfahren - nach Kalifornien, nach Mexiko und nach Hawaii. Es gibt ja so viele schöne Orte auf der Welt. Ach, das wäre traumhaft.«
»Wenn ich ihm zuhöre«, sagte Sina auf der Rückseite des Bandes, »dann komme ich mir vor wie ein ganz, ganz junges Mädchen mit seinem ersten Freund. Männer sind wie bösartige Kinder, aber er ist wie der liebe, süße, erste Freund. Vielleicht ist er ein Wassermann, ein Kind des Meeres. Bei stürmischer See halte ich mich auf dem großen Schiff an der Reling fest. Aber er steht unten auf seinem kleinen Deck ganz ruhig, als ritte er auf den Wellen. Ich lausche seiner unschuldigen Stimme wieder und immer wieder. Es wäre traumhaft, sagt er.«
Auf den nächsten zehn oder zwölf Seiten klebten Fotos von ein und demselben Mann: glattes dunkles Haar, dunkle Augen mit schweren Lidern, breite Backenknochen, die eine schmale Nase und einen feingezeichneten Mund umrahmten. Der Amerikaner. Der Aleute mit dem russischen Namen. Mike. Mikhail. Die Bilder, allesamt von oben und aus einiger Entfernung aufgenommen, zeigten ihn an Deck der Eagle, einmal wie er den Kran bediente, dann in Pose am Bug, mal beim Netzeflicken, mal, wie er der Fotografin zuwinkte.
Arkadi rauchte die letzte betäubend starke Zigarette. Er erinnerte sich an die Sina, die in ebendiesem Raum auf dem Obduktionstisch gelegen hatte, erinnerte sich ihres schwabbeligen Fleisches und der gebleichten Haare. Der Leichnam war dem Leben so weit entrückt gewesen, wie eine Muschel am Strand es ist. Diese Stimme hingegen - das war Sina, eine Frau, wie keiner auf dem Schiff sie gekannt hatte. Es war, als sei sie zur Tür hereinspaziert, habe sich ihm gegenüber auf den Schreibtisch gesetzt, in den Schatten gleich außerhalb des Lichtscheins der Lampe, habe sich eine Geisterzigarette angezündet und, da sie endlich auf ein verständnisvolles Ohr gestoßen war, ihre ganze Geschichte gebeichtet.
Natürlich wäre es Arkadi lieber gewesen, wenn das technische Labor daheim in Moskau sein imponierendes Aufgebot an Lösungsmitteln und Reagenzien, die mörsergroßen deutschen Mikroskope und Gaschromatographen hätte zum Einsatz bringen können. Doch er mußte sich nun einmal mit dem behelfen, was zur Hand war. Vor dem Ringheft legte er die Löffel aus sowie die Tabletten und die Karte mit den Fingerabdrücken, die Wainu von der Leiche genommen hatte. Er zerrieb die Tabletten zwischen zwei Löffeln, wickelte seinen Ärmel um den Stiel des Löffels, in den er das pulverisierte Jod geschüttet hatte, riß ein Streichholz an und hielt die Flamme unter die Löffelmulde. Dabei bewegte er seine Hand dicht über dem Ringheft auf und ab, damit die Dämpfe des erhitzten Jods in das Blatt gegenüber der Kartenskizze einziehen konnten. Für diese Methode mußte man laut Vorschrift Jodkristalle über einem Spiritusbrenner in einem Glasbehälter verwenden. Arkadi rief sich in Erinnerung, daß nach dem vom letzten Parteikongreß propagierten Umdenken alle guten Sowjets willens waren, die Theorie zugunsten praktischer Anwendung zu beugen.
Joddämpfe reagieren rasch auf die Schweißrückstände von Fingerabdrücken. Zuerst erschienen die gespenstischen Umrisse einer linken Hand, sepiabraun wie auf einer alten Fotografie. Handfläche, Ballen, Daumen und vier Finger zeichneten sich in genau der Stellung ab, die sie eingenommen haben dürften, als Sina das Heft glattstrich, um ein Bild oder eine Zeichnung einzukleben. Dann wurden die Details sichtbar: Windungen, Deltas, Furchen, Radialschleifen. Er konzentrierte sich auf den Zeigefinger und verglich ihn mit dem auf der Karteikarte. Eine Doppelschleife, wie Yin und Yang. Eine Insel im rechten Delta der Schleife. Ein Schnitt im linken Delta. Karte und Ringheftblatt stimmten überein; dies war Sinas Buch, und der Abdruck war der ihrer Hand, so deutlich, als strecke sie sich ihm entgegen. Daneben fanden sich noch zwei andere Abdrücke, und zwar männliche, nach der Größe zu urteilen, grobe, flüchtige Spuren.
Als das Streichholz heruntergebrannt war, begann die Hand zu verblassen, und in der nächsten Minute war sie wieder
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