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Polar Star

Polar Star

Titel: Polar Star Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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bevor Slawa ihren Abschiedsbrief dort fand.
    »Natascha!« Ihre Freundinnen, die an der Reling vorrückten, winkten ihr hektisch, endlich ihren Platz in der Schlange einzunehmen.
    Natascha war bereit, zu rennen, zu schweben, ja zu fliegen, und doch zog sich eine Falte über ihre Brauen, denn sie war dabei gewesen, als Arkadi Sinas Bett untersucht hatte.
    »Auf dem Fest wirkte sie gar nicht so deprimiert.«
    »Das glaube ich gern.« Tanzen und Flirten waren nicht die üblichen Symptome einer Depression.
    Nataschas letzte Frage bedeutete eine besondere Überwindung für sie. »Glauben Sie wirklich, daß es Selbstmord war? Ich meine, halten Sie es für möglich, daß sie eine solche Dummheit begangen hat?«
    Arkadi überlegte sich seine Antwort sorgfältig, da er wußte, daß Natascha seit Monaten auf diesen einen Tagesausflug hingelebt hatte, aber trotzdem getreulich mit ihm an Bord bleiben würde, falls er ihr einen Grund dafür lieferte. »Dumm finde ich es, wenn Selbstmörder Abschiedsbriefe hinterlassen. Ich persönlich würde mich weigern.« Er deutete auf das Rettungsboot. »Sie müssen sich beeilen, sonst verlieren Sie Ihren Platz.«
    »Was kann ich Ihnen mitbringen?« Nataschas eben noch umwölkte Stirn war wieder klar.
    »Eine Ausgabe von Shakespeares Gesammelten Werken, eine Videokamera und ein Auto.«
    »Das alles kann ich mir natürlich nicht leisten.« Sie war schon auf den Stufen, die hinunter zum Bootsdeck führten.
    »Ein bißchen Obst tut’s auch.«
    Natascha drängelte sich zu ihren Freundinnen durch, die eben die Gangway betraten. Sie sind wie die Kinder, dachte Arkadi, wie Kinder, die an einem düsteren Dezembermorgen vor ihrer Schule in Moskau stehen, eingemummt bis hinauf zu den verschlossenen kleinen Gesichtern, und mit den Füßen im Schnee stampfen, bis endlich die Tür ins Warme aufgeht und ihre Augen aufleuchten läßt. Wie gern würde er mit ihnen von Bord gehen.
    Das Rettungsboot sah aus wie ein aufgetauchtes U-Boot. Im Falle einer Havarie konnte es, wasserdicht verriegelt, bis zu vierzig Mann in Sicherheit bringen. Sein Rumpf leuchtete in jenem als »internationales Orange« bekannten Pastellton. Für den heutigen Landausflug hatte man die Luken geöffnet, damit Steuermann und Passagiere die frische Luft genießen konnten. Natascha winkte Arkadi noch einmal zu, ehe sie in einer Pose resoluter sowjetischer Ernsthaftigkeit erstarrte. Das Boot legte ab, und der eng zusammengedrängten Gesellschaft auf dem orangefarbenen Deck war nicht anzumerken, wohin sie fuhren, ob zu einer Beerdigung oder zu einem Picknick.
    Die Merry Jane kam längsseits, um die nächste Gruppe an Land zu bringen, und schon bildete sich eine neue Schlange an der. Reling. Unter den Wartenden war auch Pavel aus Karps Deckteam. Als er Arkadi erblickte, fuhr er sich in bedeutsamer Geste mit dem Finger über den Hals.
    Land hat einen ganz eigenen Geruch, dachte Arkadi. Unalaska roch wie ein Garten, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als den Pott, auf dem er nun schon seit zehn Monaten lebte, zu verlassen und über festen Boden zu schreiten, und sei es nur für eine Stunde.
    Bis jetzt hatte er noch niemandem von dem Überfall erzählt. Was hätte er auch sagen können? Er hatte Karp und die anderen Männer schließlich nicht gesehen. Sein Wort stünde gegen das von sechs politisch zuverlässigen Seeleuten erster Klasse, die ihr gesellschaftliches Verantwortungsbewußtsein täglich unter Beweis stellten. Was ihn anging, so stand nur fest, daß er Dämpfe eingeatmet, davon Halluzinationen bekommen und außerdem versucht hatte, den Fischraum in Brand zu stecken.
    Dort, wo Dutch Harbor liegen mußte, stieg schwärzlicher Rauch in den Himmel. Wie groß die Stadt wohl sein mochte? Hellere Rauchschwaden segelten vor den Berghängen - Berge, die direkt aus dem Meeresboden emporwuchsen. Er stellte sich vor, daß er über sie hinwegflöge und in einem grünen Tal niederginge, einem Tal, in dem Kolja Mers heißersehnte Sumpforchideen blühten. Dort würde er sich bücken, eine Handvoll Erde aufnehmen und daran riechen.
    Das Rettungsboot näherte sich jetzt der Aleutensiedlung: Ein hübsches Bild war das, wie das orangefarbene Boot an der weißen Kirche vorüberglitt. Er stellte sich vor, Sina wäre an Bord.
    »Das nenne ich Ironie«, sagte Hess, der unbemerkt neben Arkadi getreten war.
    Der Elektroingenieur der Flotte hatte sich in Schale geworfen, zu einem schwarzglänzenden Parka trug er Jeans und sibirische Filzstiefel. Arkadi

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