Polar Star
Dutch Harbor zeigen.«
Sie standen an der offenen Luke und atmeten den salzigen Geruch des Wassers ein, das unter einem Ölfilm seidig schimmerte. Arkadi war seit zehn Monaten nicht mehr so nahe an der Wasseroberfläche gewesen, von Land ganz zu schweigen. Als das Rettungsboot Kurs auf die Hafeneinfahrt nahm, sah er, daß die Aleuten-Häuser wie Schwalbennester zwischen Bucht und Bergen klebten. Wie stolz sie alle hinter der weißen Kirche mit ihrem Zwiebelturm aufmarschiert waren! In den Fenstern brannte schon Licht, und hier und da sah man im Lampenschein Gestalten sich bewegen wie Schattenrisse. Die bloße Existenz von Schatten erschien ihm nach fast einem Jahr in Nebel und Dunst bereits wie ein Wunder. Und die Vielfalt der Düfte war einfach überwältigend: Seetang, Sand und, mächtig wie die Schwerkraft der Erde, das würzig-süße Aroma von Gras und Moos. Sogar einen Friedhof gab es, mit orthodoxen Kreuzen, als ob Menschen ordentlich in der Erde beigesetzt werden könnten, statt einfach im unendlichen Grab des Meeres zu verschwinden.
Das Rettungsboot war mit einer Miniaturbrücke ausgerüstet, doch der Steuermann, ein blonder Junge mit einem dicken Pullover, benutzte das Außenruder. Die russische Nationalflagge, die hinter ihm an einer kurzen Fahnenstange flatterte, sah aus wie ein rotes Taschentuch.
»Eigens für den Krieg gebaut, und als er aus war, hat man’s verfallen lassen.« Hess deutete auf ein Haus auf einem Klippenkamm. Das Dach und Teile der Außenmauern waren eingestürzt, so daß im Innern Treppenstufen und Stützgeländer sichtbar wurden wie die Windungen im Gehäuse einer Meeresschnecke. Arkadi blickte in die Runde und zählte auf den umliegenden Hügeln noch etwa ein Dutzend solcher armeegrauer Bauten.
»Der Krieg, in dem wir Verbündete waren.« Hess’ Worte waren für den jungen Steuermann bestimmt.
»Sie sagen es, Chef«, antwortete der forsch.
In der geschützten Bucht war vom Seegang kaum mehr etwas zu spüren. Wellenförmig, wie ein gezackter Ring, umspielten grünschillernde, reflektierende Lichter das Rettungsboot.
»Bestimmt waren Sie damals noch gar nicht auf der Welt«, wandte Arkadi sich an den Jungen, in dem er inzwischen einen Funktechniker namens Nikolai erkannt hatte. Er hätte gut auf eins der Plakate gepaßt, mit denen die Armee um Nachwuchs warb - seidig schimmerndes weizenblondes Haar, kornblumenblaue Augen, dazu die breiten Schultern und das abgebrühte Lächeln des Athleten.
»Stimmt, das war der Krieg meines Großvaters.«
Augenblicklich fühlte sich Arkadi uralt, doch er wollte das Gespräch nicht abreißen lassen. »So, Ihr Großvater! Wo war er denn stationiert?«
»In Murmansk. Zehnmal ist er nach Amerika rüber und zurück«, antwortete Nikolai. »Zwei Schiffe sind unter ihm gesunken.«
»Aber Sie haben auch einen recht anspruchsvollen Beruf.«
Nikolai zuckte die Achseln. »Geistesarbeit, nichts Aufregendes.«
Mittlerweile hatte Arkadi die Stimme von Sinas Leutnant einwandfrei erkannt. Er sah den jungen Mann vor sich, wie er selbstsicher vor den Kellnerinnen im Goldenen Horn paradierte, die Sterne auf seinen Schulterstücken blitzen ließ und sich die Mütze in verwegen schiefem Winkel auf den Scheitel drückte. Nicht zum erstenmal kam Arkadi der Gedanke, daß der Überfall auf ihn erst erfolgt war, nachdem er versucht hatte, Hess’ Assistenten ausfindig zu machen.
»Was für ein schöner Hafen.« Hess’ Blicke wanderten vom Tanklager über das etwa eine Meile lange Betondock bis zum Funkturm auf dem Hügel, als nähme er eine unerforschte Tropeninsel in Augenschein.
Vielleicht, dachte Arkadi, hat niemand gesehen, wie ich in das Boot gestiegen bin. Wie einfach wäre es dann, mich loszuwerden. Es war gängige Praxis, daß die Schiffe sich, bevor sie in den Hafen einliefen, ihres mit Gewichten beschwerten Abfalls entledigten. Und an Bord eines jeden Rettungsbootes befand sich ein Reserveanker samt Kette.
Aber sie glitten ruhig weiter über die schillernde Wasseroberfläche, vorbei an Fangbooten in naßglänzenden Grundfarben, Boote, wie Arkadi sie nie zuvor gesehen hatte. Jetzt fuhren sie so dicht aneinander vorbei, daß er den Männern zuschauen konnte, wie sie das Deck schrubbten oder die Netze zum Flicken aufspannten. Von den Docks, die hinter dem schieferblauen Schiffsrumpf der Fischkonservenfabrik verborgen waren, hörte man Rufe und Lachen.
Während die Hügel langsam näher rückten und die Bucht sich zur Hafeneinfahrt hin verengte,
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