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Polarfieber (German Edition)

Polarfieber (German Edition)

Titel: Polarfieber (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Henry
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und in Richtung Wasser zu stapfen. Silas fluchte unterdrückt. Ohne großen Ordnungssinn raffte er die Planen und Matten zusammen, aus denen er den Unterstand gebaut hatte, verknotete alles und hievte es sich auf die Schultern, ehe er ihr folgte.
    „Hey!“, rief er, aber sie blieb nicht stehen. „Jetzt warte schon! Hier! Iss etwas!“
    „Nicht schon wieder ein Schokoriegel. Mir klebt schon der Magen zusammen.“
    „Keine Schokolade. High Protein. Jetzt nimm schon.“ Er hatte sie erreicht und wedelte mit dem Riegel vor ihrem Gesicht. Sie wandte sich angewidert ab.
    „Lass gut sein, Silas, ich habe keinen Hunger.“
    „Das ist mir scheißegal!“, fuhr er auf. „Das hatten wir gestern schon. Du kannst das jetzt freiwillig essen oder ich werfe dich zu Boden und zwing es dir rein. Such es dir aus. Verdammt nochmal, Kaya, dein Körper verbraucht im Augenblick selbst im Ruhezustand mehr Energie als ein Hochleistungssportler, nur um nicht zu erfrieren.“
    Stur trottete sie weiter. Es dauerte, ehe sie antwortete. „Es gefällt mir nicht, dass du so tust, als ob nur du Ahnung hättest.“
    „Ich gebe ja zu, dass ich tausendmal weniger Ahnung von dem Leben hier draußen habe als du, aber wie man überlebt, das habe ich gelernt.“ Auch wenn ich ohne dich im Augenblick nicht den leisesten Ansporn zum Weiterleben hätte, fügte er in Gedanken hinzu. „Ich schleppe diese Scheißriegel jedenfalls nicht umsonst mit!“
    „Dann guten Appetit“, erwiderte sie kalt.
    Er bekam sie im Nacken zu packen und hielt sie fest. Dann drückte er sie rücklings gegen einen vereisten kleinen Wasserfall, der aus den Klippen zum Wasser führte. Unter der Eisschicht hörte er ein leises Tröpfeln. Mit seinem ganzen Körper hielt er sie fest, und dass sie ihm kaum etwas entgegenzusetzen hatte, zeigte ihm mehr als alles andere, wie geschwächt sie war. Es machte ihm mehr Angst, als er vor sich selbst zugeben wollte. „Iss das!“, grollte er sie an. „Jetzt. Sofort. Hier. Eher lass ich nicht los, du kleine Hexe!“
    „Nimm deine Hände von mir.“ Ihre Augen funkelten vor unterdrückter Wut. „Ich bin ein Mensch, der über sich selbst bestimmt. Mein Körper wird mir sagen, wann es Zeit zum Essen ist. Ich esse, wenn ich Hunger habe. Lass mich sofort los oder wir gehen ab sofort getrennte Wege und dann wollen wir mal sehen, wer überlebt, du arroganter Trottel.“
    „Ich bin arrogant und vielleicht auch ein Trottel, aber ich lass dich auf keinen Fall allein irgendwohin gehen.“
    „Weil du Angst hast, dich zu verlaufen.“
    Er starrte sie an. Dann warf er lachend die Arme in die Luft, sodass sie ihm entglitt und unter seiner Achsel hindurch freistolperte.
    „Verlaufen? Wir müssen uns nicht verlaufen, keiner von uns, denn wer kein Ziel hat, kann sich auch nicht verlaufen. Verdammt, Kaya, bleib sofort stehen, und lass uns wenigstens einen Plan machen. Gib es doch zu, du rennst ebenso ziellos durchs Eis wie ich. Hoffnung ist alles, was wir noch haben. Und einander, auch wenn du diesen Gedanken am meisten hasst.“
    „Iss deine Energieriegel!“, warf sie ihm über die Schulter zu. „Wer so viel redet, braucht Nährstoffe, um seine Stimmbänder geschmeidig zu halten.“
    Er achtete darauf, dass der Abstand zwischen ihnen nicht zu groß wurde, aber auch darauf, ihr nicht zu nah zu kommen. Er behielt sie im Blick, war aber weit genug entfernt, ihre Schritte nicht zu hören. Sie schlug einen Pfad ein, der zurück an die Bucht führte, deren Wellen sich nach dem Abklingen des Sturms nur langsam beruhigten. Wenn sie recht hatte und sie unterhalb des Nunatakavsaup abgestürzt waren, dann war es das Klügste, immer an der Küste in südlicher Richtung zu gehen. Er wusste das so gut wie sie.
    Nuussuaq war eine Halbinsel, und die winzige Siedlung mit ihren zweihundert Seelen, in der irgendein hoffnungsloser Optimist eine Fischverarbeitungsfabrik eröffnet hatte, wurde zweimal wöchentlich von Air Greenland mit Helikoptern angeflogen. Er kannte den Flugplan, auch wenn er nie selbst in dieser frostigen Einöde gelandet war. Er kannte den Küstenverlauf nur aus der Luft. Die meisten Siedlungen in dieser Gegend befanden sich auf Inseln, ehe das Meer nicht zufror, kamen sie nicht dorthin. Bis das Eis ausreichend dick war, würden Wochen vergehen. Wenn sie sich hinsichtlich des Absturzortes nicht irrte, dann war Nuussuaq ihre einzige Hoffnung. Die einzige Siedlung, die man trockenen Fußes erreichen konnte. Einmal mehr verfluchte er sich, dass er

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