Polarfieber (German Edition)
auf das Handy nicht besser aufgepasst hatte. Kayas Mobiltelefon hatte zwar GPS, aber keine Satellitenverbindung. Fernab aller Sendemasten war es absolut nutzlos.
Als sein Magen zu knurren begann, schob er sich Traubenzucker zwischen die Zähne. Kaya entfernte sich wieder vom Ufer und kletterte in die nackten Felsen hinauf. Der Mond war untergegangen, aber der Himmel begann, sich von Tintenschwarz zu einem kalten Königsblau zu erhellen. Ein paar Sterne funkelten noch auf der Meeresoberfläche, aber die Konturen der Küste schälten sich bereits heraus. Silas begriff. Kaya wusste nicht wirklich, wo sie waren. Sie hatte vermutet. Wie konnte sie es auch wissen? Bis hin zum Moment des Absturzes hatte sie im Helikopter geschlafen. Sie hatte überhaupt keine Ahnung, wie lange sie geflogen waren. Im Grunde hatte er selbst mehr Ahnung, wo sie ungefähr sein mussten. Sie mussten ihre gemeinsamen Kenntnisse in einen Tiegel werfen.
Kaya wollte einen höheren Punkt erreichen, um die Küste zu lesen. Aber das brachte nichts, solange er nicht neben ihr war. Die Küste zwischen Thule und Upernavik war mehr als sechshundert Kilometer lang. Auch wenn es im Archipel viele Inseln mit einzigartigen Bergformationen gab, niemand konnte diese sechshundert Kilometer genau lesen, wenn er sich einfach auf einen Berg stellte und ins mit Eisblöcken gefleckte Wasser stierte.
Er zerkaute seinen Traubenzucker und beschleunigte seine Schritte, um zu ihr aufzuholen. Das Knirschen des ihn umgebenden Polyesters dröhnte in seinen Ohren. Er begann zu laufen, als Kaya um eine Felskante verschwand. Er würde sie nicht allein lassen. Verdammt nochmal, er hatte sie in diese aussichtslose Lage gebracht. Er würde dafür sorgen, dass sie heil in die Zivilisation zurückkehrte.
„Kaya!“
Sie lehnte auf der Rückseite der Kante am Felsen, war in die Knie gerutscht, umklammerte mit beiden, in Fäustlingen aus Robbenfell steckenden Händen ihre Schienbeine und wiegte sich vor und zurück. Er kniete sich zu ihr, zog einen seiner Handschuhe aus und legte die Finger unter ihr Kinn. Als sie das Gesicht hob, erkannte er, dass sie unter der olivfarbenen Haut grau wie Asche war, ihre zersprungenen Lippen dunkelviolett, tiefe Ringe unter den Augen. Verflucht. Am liebsten hätte er sie dafür geohrfeigt, dass sie sich schon wieder überschätzt hatte. Dass es ihr so verdammt wichtig war, zu beweisen, dass sie nicht aufgab, zu zeigen, dass es sich lohnte zu kämpfen für dieses verfluchte Leben. Stattdessen nahm er eine Handvoll Schnee und verrieb das Weiß auf ihren Lippen, mit der anderen Hand wühlte er in den Seitentaschen seines Backpacks und fand die Traubenzuckerpastillen.
„Hier!“, kommandierte er sanft. „Mach den Mund auf, Kaya. Traubenzucker. Hey, kannst du mich hören?“
Sie nickte, ihr Kopf sackte zurück, fand Halt am Felsen. Sie schloss die Augen. Er rüttelte sie. „Vergiss es. Vorhin hast du nicht mehr schlafen wollen. Du wirst jetzt auch nicht schlafen.“ Wieder zuckte seine Hand, wollte zur Ohrfeige ausholen. Er steckte beide Hände in den Schnee, brachte sie an seinen Mund und hauchte darauf, bis der Schnee zu schmelzen begann, dann hielt er die Hände über ihr Gesicht und ließ das Schmelzwasser tröpfchenweise zwischen ihre Lippen rinnen.
„Unvernünftiges Mädchen“, grummelte er und wiederholte die Prozedur. „Du kannst mir auch mal was glauben.“
Sie blinzelte, begann, die Pastillen zu zerkauen, langsam gewann ihr Blick an Fokus. Er unterdrückte ein Aufatmen.
„Du brauchst Ruhe“, sagte er fest. „Aber hier können wir nicht bleiben. Zu sehr dem Wind ausgesetzt. Ich kann dich schlecht tragen.“ Er befreite einen Riegel von der Folie brach ein Stück ab und schob es ihr zwischen die Lippen. „Kau. Keine Widerrede.“
Ein schwaches Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln, als sie zu kauen begann.
„Du … bist störrischer als ein Esel, weißt du das?“, flüsterte sie.
„Nicht halb so störrisch wie du“, erwiderte er und fütterte sie weiter. „Kannst du aufstehen und gehen, wenn ich dich stütze? Wir finden einen geschützten Ort, dann kannst du dich ausruhen. Vielleicht gelingt es mir heute, das Zelt aufzubauen. Der Wind ist lange nicht mehr so stark.“
„Es geht schon.“ Sie machte Anstalten, sich auf die Füße zu hieven.
Er drückte sie zurück. „Erst aufessen.“
„Du gehst mir ganz schön auf die Nerven, Greve“, murmelte sie. Aber sie lächelte dabei.
„Wenn du nicht gehorchst, werde ich dir
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