Polarfieber (German Edition)
hätte sie würgen müssen, als sie sich zwang zu schlucken. Reine Willenskraft zwang die Nahrung in ihren Magen. So beschäftigt war sie mit ihrem Ene r gieriegel, dass sie jedes Zei t gefühl verlor. Immer wieder warf Silas ihr einen Blick zu, wä h rend er eine Plane in der Felsspalte auslegte und die anderen Päckchen, die er vom Schlitten geworfen hatte, darum und darauf positionierte, bis eine Art Unterschlupf entstand. Seine Arbeit meisterte er deutlich geschickter als sie die ihre. Sie hatte erst knapp die Hälfte des Riegels hinuntergewürgt , als er wieder zu ihr kam.
Selbst in seinem vermummten Gesicht konnte sie den Spott e r kennen, als er sah, wie wenig sie bisher gegessen hatte. „ Sehr viel hast du ja noch nicht ge schafft . “
„ So trocken “ , protestierte sie schwach.
Augenblicklich wurde seine Miene weicher. Er bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee vom Boden auf und verteilte die Flocken auf ihren trockenen Lippen. Der Schmerz war so scharf, dass sie z i schend die Luft einsog. Eispartikel kratzten in ihrer Kehle und tri e ben ihr Tränen in die Augen.
„ Scht, es ist in Ordnung. Ich weiß, es tut weh. “
O bwohl er r echt hatte und die Kälte auf ihren gesprungenen Li p pen schmerzte, tat die Feuchtigkeit ihrem vertrockneten Gaumen gut. Der nächste Bissen war fast ein Klacks.
„ Ich bring dich jetzt dort rüber. Pass ’ du auf deinen Riegel auf, okay ? Um alles andere kümmere ich mich. “
„ Hast du auch was gegessen? “
Statt ihr zu antworten, schob er die Arme unter ihren Körper und hob sie hoch. Woher er die Kraft nahm, war ihr ein Rätsel. Er war genauso weit gelaufen wie sie und er hatte den gr ö ßeren Rucksack getragen . Bevor sie den Gedanken ganz zu Ende de n ken konnte , waren sie schon am improvisierten Lager. Vorsichtig duckte er sich mit ihr auf den Armen unter der Plane hindurch. Er hatte Decken ausgebreitet. Auf einer davon legte er sie ab.
„ Kannst du in den Schlafsack kriechen? “
Weil sie wenigstens irgendetwas schaffen wollte, nickte sie. Doch es verlangte ihr mehr ab, als sie sich jemals hätte vorstellen können. Silas half ihr, öffnete den Reißverschluss des Schlafsacks, führte ihren Körper mit sanftem Druck, bis sie es endlich g e schafft hatte. Als er mit ihrer Position zufrieden war, angelte er im Rucksack nach einer weiteren Folie. Er nahm die Handschuhe ab und riss sie auf. Mit einer Hand stützte er ihren Nacken, mit der anderen führte er das Päckchen an ihre Lippen. Eine ekelhafte, cremige Masse drückte sich in i h ren Mund. Sie würgte. „ Uh, was ist das denn? “
„ Hochkalorische Fertignahrung. Astronauten essen so was. O der Soldaten im Feld. “
Bevor sie antworten konnte, drückte er schon den nächsten Schwall in ihren Mund. Sie strich sich mit dem Handrücken über die Lippen . Dabei verlor sie den Rest des Ri e gel s , den sie immer noch umklammert gehalten hatte. Sie würde ihn später wieder finden. Langsam nahm das Zittern ab. Sie wollte nur noch schlafen.
„ Nein, nein. Du bist noch nicht so weit. Erst, wenn du das aufg e gessen hast. “ Silas ’ Protest zwang ihre Lider erneut auf. Er schwen k te ein weiteres Sachet Astronautennahrung vor ihrer N a se.
„ Wir müssen uns das einteilen. “
„ Wenn du mir jetzt erfrierst, brauchen wir gar nichts mehr einte i len. Das Essen hält dich wach. Auch wenn du mich dafür hasst “ , fügte er schmunzelnd hinzu, als sie schnaubte. „ Na komm, eine Inuit will erfrieren, während der ignorante Europäer übe r lebt. Würden die Geister deiner Ahnen das erlauben? Dabei seid ihr doch die, die über neunzig Worte für Schnee kennen . Erfri e ren dürfte keine Option für dich sein. Was für eine Schande. “
„ Ein populistischer Irrglauben. “ Sie ahnte, was er machte , und trotzdem funktionierte es. Wut über seine abschätzige B e merkung wärmte ihren Bauch, wie es die Astronautennahrung nicht ve r mocht hatte.
„ Was? Dass eine Inuit nicht erfrieren darf? “
„ Dass es in den alten Sprachen meines Volks über neunzig Worte für Schnee gibt. “
In der Dunkelheit war es schwer zu erkennen, aber Kaya hatte den Eindruck, dass nun echtes Erstaunen auf sein Gesicht trat. Sie ließ sich nicht irritieren und sprach einfach weiter. „ Die esk i moaleutische Sprachfamilie ist polysynthetisch. Wir haben die Möglic h keit, Worte so aneinanderzureihen, dass es neue Worte ergibt. So gesehen kön n te man den Ausdruck Schnee, der nach einem verfluchten
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