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Polarfieber (German Edition)

Polarfieber (German Edition)

Titel: Polarfieber (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Henry
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mehr aus. Issitoq hatte diese Hütte an diese Stelle gesetzt und wusste, was er tat.
    „Heute Nacht wird es Nordlichter geben“, sagte Kaya.
    Silas leckte sich die Finger sauber. „Die Farbe kannst du sicher auch vorhersagen.“
    „Grün. Sie sind hier um diese Jahreszeit immer grün. Nur im Frühling und weiter südlich bei Nuuk sind sie manchmal blau. Hast du blaue Nordlichter schon einmal gesehen?“
    Wie sollte er ihr erklären, dass er den Nordlichtern nie viel Aufmerksamkeit gewidmet hatte? Sie würde das nicht verstehen.
    „Du interessierst dich nicht besonders für dieses Land, nicht wahr?“, stellte sie die Frage, die ihm eine Erklärung unmöglich machte. „Weshalb bist du überhaupt hier, Silas?“
    „Weil es kalt ist und einsam“, sagte er knapp und stellte seinen Teller beiseite. „Das ist alles.“
    „Das ist traurig. Wirst du wieder heimkehren? Nach Dänemark? Wenn du von der Kälte und der Einsamkeit genug hast?“
    „Dänemark ist nicht meine Heimat.“
    „Wie meinst du das?“
    „Ich habe kein Zuhause. Dafür haben meine Eltern gesorgt.“
    „Sind sie Diplomaten oder so was? Ich verstehe nicht …“
    „Nein. Keine Diplomaten.“ Bitter lachte er auf. „Meine Mutter ist Engländerin. Sie hat Lehramt studiert und ist mit neunzehn für ein Jahr zum Austausch nach Dänemark gegangen. Dort lernte sie meinen Vater kennen, einen Englischlehrer in Kopenhagen.“ Was lag hier in der Luft, dass er über sich zu reden begann? Er redete niemals über sich. „Sie wurde schwanger, sie haben geheiratet, ich kam zur Welt, sie ließen sich scheiden. Mein Vater ging nach England und nahm mich mit, meine Mutter blieb in Dänemark und heiratete einen anderen. Ich ging in England zur Schule und war in den Ferien in Dänemark. Ich bin beides, Engländer und Däne, und ich bin nichts von beidem, weil ich weder hier noch dort zu Hause bin.“
    Sie sah ihn an, biss auf ihren spröden Lippen herum. Ihm gefiel das Mitleid in ihren Augen nicht. Das Letzte, was er von ihr oder von irgendeinem Menschen wollte, war Mitleid. „Ich will nicht, dass dir das leid tut“, sagte er. „Es ist einfach nur mein Leben.“
    „Aber das ist doch nicht alles, was du bist. Suchst du nicht? Sehnst du dich nicht manchmal? Liebst du deine Eltern, obwohl sie dich so zerrissen haben?“
    „Ich denke nicht darüber nach, ob ich meine Eltern liebe. Sie haben mich großgezogen, dafür gebührt ihnen Dankbarkeit, das ist mir klar. Sie haben mir zu essen gegeben und mich eingekleidet, die Mitgliedschaft im Sportclub und Klassenausflüge bezahlt. Viel mehr darf man ja auch nicht erwarten.“
    „Doch. Liebe.“
    „Überbewertet“, antwortete er. „Sie haben mich in die Welt gesetzt und dafür gesorgt, dass ich nicht auf der Straße verhungere. Sie haben einander nicht geliebt, wie sollten sie da das Ergebnis lieben, das sie zeugten?“
    „Ich weiß, dass du nicht willst, dass mir das leid tut, Silas“, sagte sie leise. „Aber was du da erzählst, ist einfach nur traurig.“
    Er wich ihrem Blick aus. Sie hatte keine Ahnung, dass seine Kindheit und Jugend die beste Zeit seines Lebens gewesen war. Dann traf ihn ein Hauch ihres Dufts. Ihre Hand legte sich auf seine. Ihm kam in den Sinn, dass es vielleicht doch eine bessere Zeit in seinem Leben gab: mit ihr im ewigen Eis ums nackte Überleben kämpfen.
     
    *
     
    Mit den Nordlichtern kam die Kälte. Schneidende, unerbittliche Kälte. Silas betrachtete den Himmel. Er hatte in Nuuk und Maniitsoq Nordlichter gesehen. Er wusste, dass sie ein leises, ätherisches Brummen aus der Atmosphäre mitbrachten, doch in Orten, in denen Autos fuhren und elektrische Straßenlampen brannten, war dieser Klang nicht halb so durchdringend wie hier in der ewigen Stille. Sie waren grün, wie Kaya gesagt hatte. Ein tiefes Dunkelgrün an den Rändern, fast gelb in der Mitte, als läge dort eine Energiequelle, die schlierige Streifen absorbierte und in den Äther schickte. Sie tanzten. Er hatte das immer für romantisierende Übertreibung gehalten, wenn Leute die Bewegungen des farbigen Lichtes am Polarhimmel mit einem Tanz verglichen, aber sie hatten recht. Wenn er allerdings weiter so in den Himmel starrte, würde er festfrieren.
    Kaya zupfte an seinem Arm. „Komm in die Hütte.“
    Er riss sich von dem Anblick über seinem Kopf los und sah auf sie hinab. Umrahmt von der pelzbesetzten Kapuze, schälte sich das Oval ihres Gesichts aus der Dunkelheit. In den fast schwarzen Mandelaugen spiegelte sich

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