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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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Gerstensuppe vorsetzen würde und der Vater ihm schweigend und hin und wieder kopfschüttelnd beim Essen zusähe? Wieder auf einem Strohsack schlafen, um vier Uhr morgens unsanft geweckt und zum Kühe Melken in den Stall geschickt werden? Sonntags zum Kirchgang genötigt werden, die Predigt des Pfarrers über Hochmut und Fall sowie die sich bei jeder Hebung der krächzenden Stimme nach ihm drehenden Köpfe und Blicke über sich ergehen lassen müssen, keinen Anschluss ans Dorf mehr finden, dem er sich nie verpflichtet gefühlt hatte und dauernd auf die nächstbeste Gelegenheit warten, wieder fortgehen zu können? Nein, sicher nicht? Also wohin dann, Jack? Nach Zürich? Nach Italien? Nach Deutschland oder Frankreich? Ans Meer oder in die Berge? An den Nord- oder den Südpol?
    Vittorio trat mit einer großen Tasche auf leisen Sohlen ein. Jack schaute hoch und bedeutete ihm, sich neben ihn zu setzen.
    „Was ischt, Bub? Weißt nicht wohin?“
    Jack nickte.
    „Geh nach Basel. Gute Stadt. Nicht so Schwiiz, weisch.“
    „Nicht so Schweiz?“
    „Ja, hat einen Fluss ans Meer, Deutschland auf der einen Seite, Frankreich auf anderer und Schweiz erst an dritter Seite. Da schauen sie nicht so sehr, ob einer aus Italien oder dem Toggenburg kommt.“
    „Warst du schon mal dort?“
    „Nein, aber weiß es?“
    „Von wem?“
    „Guter Freund, aus einem Dorf bei uns in der Nähe, arbeitet in sehr gutem Hotel, Drei Könige.“
    „Und was soll ich dort?“
    „Was sollst du woanders?“
    „Gute Frage.“
    „Siehst du. Jetzt pack zusammen, nimm die Tasche hier. Da sind die Kässeli drin. Der Zug nach Basel fährt in Dreiviertelstunde. Mach jetzt.“
    Jack erhob sich, nahm einen abgewetzten Seesack vom klapprigen Schrank, öffnete diesen und stopfte mechanisch seine wenigen Habseligkeiten hinein. Er tat jetzt einfach, wie ihm befohlen. Es schien ihm der einzige Ausweg zu sein.
    Als er fertig war, reichte ihm Vittorio die Tasche mit den Einmachgläsern.
    „Es hat noch kein Geld darin, aber du findest ein wenig Salami und Käse. Iss ihn bald, so hat es Platz für Geld.“
    Jack nahm die Tasche, stellte sie und den Seesack gleich wieder hin und umarmte Vittorio ganz fest.
    „Danke, Vittorio, danke.“
    „Geh jetzt, Bub. Zum Weinen habe ich keine Zeit, muss vorbereiten.“
    „Sehen wir uns wieder?“
    „Sicher, Bub, komm hierher, wenn die Kasse für Wünsche voll ist.“
    „Wünsche?“
    „Habe noch eins für dich gemacht. Aber geh jetzt.“
    Jack schulterte den Seesack, nahm die Tasche und verließ das Zimmer hinter Vittorio, ohne sich umzusehen. Am Ende des Ganges hob Vittorio nochmals die Hand, ohne sich umzudrehen, sagte leise, „Ciao, Bub“, und verschwand um die Ecke. Jack stieg die Treppe hinunter und verließ das Grand Palace durch den Hintereingang.
    Als er in Basel dem Zug entstieg, war es mittlerweile Nacht geworden und durch die Bahnhofshallen wehte ein eisiger Wind, der ihm neben einer unerbittlichen Kälte, den Ruß der Lokomotiven ins Gesicht schlug und den Gestank von Kohle, Öl und Schmierfett in die Nase trug.
    Breiter zog die Schultern ein, hielt mit der einen Hand Seesack und Tasche fest, mit der anderen versuchte er seinen Capot, so gut es ging, zu schließen und marschierte schnellen Schrittes aus der Bahnhofshalle heraus auf den großen Vorplatz. Er war ziemlich menschenleer. Ein paar Chauffeure öffneten die Türen teurer Automobile für ihre betuchte Herrschaft, deren große, schwere Koffer auf bereitstehende Fuhrwerke geladen wurden, die, fertig beladen, den knatternden, Fehlzündungen in die Nacht knallender Hispano-Suizas, Rolls-Royces und Bugattis zu den prächtigen Villen in den vornehmen Vierteln der Stadt folgten.
    Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei und von der Welt der edlen Garderoben, wohlriechenden Foulards, mit Pelz gefütterten Lederhandschuhe, der Perlen, Diamanten, goldenen Manschettenknöpfe, gezwirbelten und gewichsten Schnurrbärte, Seidenplissees und lackierten Fingernägel, in der sich Jakob Breiter ein gutes Jahr lang mit zunehmender Sicherheit bewegt hatte, blieb ihm nichts weiter übrig, als die Rückansicht eines mit Überseekoffern beladenen, in der Nacht entschwindenden Fuhrwerks.
    Selten in seinem bisherigen Leben war er sich so verlassen vorgekommen. Bestenfalls damals, als auf der Chreialp ein junges Zicklein den Fels hinunterstürzte, weil er trotz väterlicher Warnungen die Herde zu nahe an den Abhang trieb und er zur Strafe zwei Tage und zwei Nächte alleine in der

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