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Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
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allfällige Erbschaftssteuer bei Antritt des Erbes gleich zu bezahlen sei.
    Am 23. Januar 1935 stand Breiter in der gut ausgestatteten Zweizimmerwohnung im Linsebühlquartier seiner Mutter und wusste nicht, was er fühlen sollte. Neben den üblichen Möbeln, wie ein großes Bett, eine Standuhr, Tisch und Stühle fand er aber auch ein Klistier, Handschellen, drei Peitschen und Schachteln mit „Fromms – heißvulkanisiert“. Über all die Jahre war er nie mehr in Kontakt mit ihr getreten, schließlich war sie es gewesen, die bei Nacht und Nebel gegangen war und ihn dem Schnaps, den Fäusten, Spazierstöcken und Gürteln des Vaters überlassen hatte. Unter all den Schlägen hatte er weder Wut noch Hass noch Sehnsucht ihr gegenüber entwickelt. Sie war einfach weg und seine Erinnerungen an sie, wie sie roch, ob sie hübsch war, warm oder kalt, ob sie ihn küsste, wenn er zur Schule ging, oder vor der Sonntagsschule mit Weihwasser ein flüchtiges Kreuz auf seine Stirn malte, musste sie mitgenommen haben. Und was sie nicht mitgenommen hatte, hatte er weggesperrt.
    Die Fratze seines Vaters, der über ihm steht, der Gestank nach Schweiß, Mist und Schnaps, der ihm mit der Faust ins Gesicht schlägt und mit den schweren Schuhen in die Seiten tritt, sie verfolgte ihn manchmal in seinen Träumen. Aber ob seine Mutter eingegriffen, ihn auch geschlagen oder nach überstandener Tortur tröstend in die Arme genommen hatte; er wusste es einfach nicht mehr.
    Breiter entschloss sich, einen Trödler aufzusuchen, der die Wohnung räumen sollte. Ein paar kleine Dinge, einen Ring, einen Füllfederhalter und eine Brosche mit einem kleinen, blau schimmernden Mondstein in der Mitte nahm er mit.
    Als er die Wohnung verlassen wollte, öffnete sich die Türe der Wohnung gegenüber und eine alte, kleine, verhutzelte Frau mit karierter Schürze trat auf den Flur.
    „Sie könnten Köbi sein“, sagte sie mit leiser Stimme.
    „Ja.“
    „Trotz allem, sie war eine Liebe. Ich soll Ihnen das geben.“
    Sie zog einen Umschlag aus ihrer Schürze und gab ihn Jacques.
    „Woran ist sie gestorben.“
    „Wahrscheinlich an einem Herzschlag.“
    „Haben Sie die Wohnung so sauber aufgeräumt?“
    „Nein, sie war immer eine Ordentliche.“
    „Aber es sieht aus, als hätte gar niemand darin gelebt?“
    „Vielleicht. Vielleicht hat sie einfach in sich gelebt.“
    „Hat sie von mir erzählt?“
    „Manchmal. Und nur Gutes.“
    „Warum hat sie mich nicht mitgenommen? Damals?“
    „Darüber hat sie nie gesprochen. Aber sie war eine Liebe.“ Die alte Frau gab Breiter die Hand, sagte, „ich muss jetzt die Wähe aus dem Ofen nehmen“, drehte sich um und wollte in ihre Wohnung zurückgehen, hielt nochmals inne und sagte eindringlich: „Behalten Sie sie in guter Erinnerung. Sie hat es verdient.“
    Dann ging sie hinein und drehte den Schlüssel im Schloss.
    Breiter stand da, betrachtete den Umschlag, „für köbi“, es würgte ihn, er ging los, übersprang zwei Stufen aufs Mal und als er draußen stand, holte er tief Luft, setzte sich trotz leichten Schneefalls auf eine Bank vor dem Haus, grapschte nach seinen Zigaretten, zündete eine an, füllte seine Lungen mit Rauch, hielt den Atem an und hoffte so, dass seine Seele wenigstens ein kleines Bild seiner Mutter herausgeben würde.
    Nichts.
    Er rauchte die Zigarette zu Ende, beschloss, den Brief im Zug zu lesen, ging auf die Bank, 947,35 Franken, immerhin, ging auf die Behörde, wollte die Beerdigung bezahlen, welche aber von anonymer Seite bereits übernommen worden war, bezahlte Erbschaftssteuer und Stempelgebühren und fuhr mit 929,65 Franken in der Tasche und einem Brief in der Hand nach Basel zurück.
    lieber köbi
    ich hab nie correct schreiben gelernt, darum übe nachichtigkeit mit meinen fehlern, aber es werden sicher nicht so viel sein, wie ich bei dir gemacht habe
.
    als ich weg bin, warst du schon in st. gallen und der pfarrer hassler sagte mir, es ging dir gut
.
    mir ging es nicht gut, da ich keine arbeit hatte, also musste ich das tun, was frauen als letztes noch arbeiten können. und mit der zeit tat ich es gerne und konnte auch männern helfen und so auch ihren frauen. darum habe ich die dinge nicht weggeräumt, du solltest es wissen
.
    ich weiss, dass du in basel bist und dass du arbeit hast. ich wäre gerne gekommen, aber jetzt bin ich zu krank und der heilige antonius hat mir auch gesagt, ich solle nicht gehen. es sei besser so
.
    ich hab dich immer ganz gern gehabt, gerner als alles

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