Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Polarrot

Polarrot

Titel: Polarrot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Tschan
Vom Netzwerk:
Verhör an seinen inneren Verletzungen verstorben. Seine Frau Magda hatte daraufhin Selbstmord verübt.
    Elsie war nach ihres Vaters Verhaftung gleich in die Schweiz gereist und hatte nach Engagements gesucht. Ein paar kleine Rollen in Basel, keine in Zürich, ein im letzten Moment geplatztes Engagement in Bern und schließlich eine freie Anstellung auf Zeit beim Städtebundtheater Biel/Solothurn.
    Es war hartes Künstlerbrot, das Elsie zu beißen hatte, und die Konkurrenz nahm nicht ab. Im Gegenteil: In Deutschland verschärfte sich die Situation für Künstler zusehends, die Schweiz wurde mit erstklassigen Schauspielern, Schriftstellern, Librettisten, Tänzern und Sängern geradezu überschwemmt. Und vor und mit dem Anschluss Österreichs im März 1938 kamen auch noch österreichische Künstler, die Elsies Aussichten auf größere Rollen und einen besseren Vertrag doch arg zusetzten.
    Jedenfalls kam sie nie über den Status des durchaus geschätzten, aber künstlerisch nicht übermäßig begabten Ensemblemitglieds hinaus. So wurde die latente Gefahr, von der schweizerischen Fremdenpolizei ausgewiesen zu werden, immer größer. Es fiel ihr ein Stein vom Herzen, als Breiter ihr zusagte, sie zu heiraten.
    Breiter seinerseits knüpfte das Ganze natürlich an ein paar Bedingungen: Falls er sich scheiden lassen wolle, müsse sie zustimmen, falls es zu einer Scheidung komme, dürfe sie keine finanziellen Ansprüche erheben, getrennte Kassen und keine Kinder. Breiter liebte Elsie nicht, wie er es mit Charlotte gewohnt war. Elsie weckte nicht die großen Gefühle, wie es Charlotte getan hatte, auch verführte sie nicht zu erinnerungsgeschwängerten erotischen Tagträumen, so wie Gedanken an Rosie sie in ihm auszulösen vermochten, aber er hatte Elsie sehr gerne, schätzte ihre offene und direkte Art, profitierte ausgiebig von ihrem aktiven Geschlechtsleben und erlebte sie als ungemein gesellig und beliebt in Gesellschaften. Breiter gewöhnte sich rasch an sie, war froh ein zu Hause zu haben, in dem die Hand einer Frau spürbar war und vermisste sie ehrlich, wenn sie mal ein, zwei Tage außerhalb der Stadt engagiert war und dem gemeinsamen Bett fernblieb. Dann schlief er schlecht und eine schleichende Eifersucht trieb ihn zu nächtlichen Gängen an den Brotkasten.
    Auch zuckte er nicht mehr so oft zusammen, wenn jemand nahe hinter seinem Stuhl vorbeiging, der Anblick von Uniformen schlug nicht mehr direkt in die Magengrube, er sprach jetzt öfter und schrie weniger im Schlaf, und die prügelnden und mordenden SS-Männer verzogen sich nach und nach auf die Außenposten seiner Traumlandschaften. Und ganz selten, ermattet von Elsies Reitkünsten, schlief er sogar auf dem Rücken ein.
    Natürlich konnte er seine seelischen Wunden nicht ganz vor Elsie verbergen. Und so sah sich Breiter etwa in der siebenunddreißigsten Nacht ein paar Lügen der ersten Nacht ins richtige Licht rücken. Der über zweijährige Aufenthalt in Deutschland als Vertreter wurde zum Gefängnis- und KZ-Aufenthalt wegen Devisenvergehens. Trotz allem war es ein gutes Geschäft mit einem Schuss Menschlichkeit, was er Elsie gegenüber herausstrich.
    Von den Bedingungen, von den Verhören, von den Misshandlungen, der Entwürdigung, der Machtlosigkeit, vom Hecheln um kleinste Privilegien bis zur Selbstaufgabe und der Angst, der Nächste zu sein, angesichts des Todes oder der Exekution eines anderen, erzählte er ihr nichts. Und verbat ihr auch zu fragen, verbat sich selbst die Antworten und die Erinnerungen, um das kleine Glück, diese Nische – eine Art Heimat, die er sich, die sie sich erschaffen hatten – zu schützen.
    Elsie war es auch recht, das Thema auszuklammern. Sie wollte keine Einzelheiten von Gewalt und Willkür wissen, sie wollte sich nicht ausmalen können, was ihr Vater bis zu seinem Tod durchgemacht hatte. Ja, sie wollte einfach gar nichts mehr von Deutschland wissen. Sie nahm das Land einfach von der Landkarte, zeichnete ein Europa mit einem riesen weißen Fleck im Zentrum.
    Breiters Verdienst reichte, um nicht schlecht zu leben. So lag ein Besuch der Landi in Zürich im Mai 1939, der zu einem erweiterten Wochenendausflug mit Hotelübernachtung wurde, wie auch eine spontane Ferienwoche in Ascona im Bereich der finanziellen Möglichkeiten Breiters. Und auch die leeren Kässelis bekamen ab und zu ein Zubrot.
    Beim Besuch der Landi, als sie in Gondeln in luftiger Höhe über den Zürichsee schwebten, wurde ihm schlagartig klar, dass die Bilder

Weitere Kostenlose Bücher