Polgara die Zauberin
glaube, ich hatte es eigentlich auch gar nicht erwartet. Mutter trauerte noch immer über den Tod meiner Schwester.
Ich verfolgte die Angelegenheit nicht weiter, denn ich war ja den Baum besuchen gekommen. Wir sprachen nicht, aber das tun wir schließlich nie. Unsere Verständigung hätte sich nicht in Worte fassen lassen. Ich versenkte mich in das Gefühl von Zeitlosigkeit und nahm seine ewige Gegenwart in mir auf, und auf eine etwas behutsamere Weise bestätigte er Vaters schroffe Einschätzung vom Vortag. Vater, Beldin, die Zwillinge und ich waren nicht wie andere Menschen, und unser Lebenszweck war nicht der ihre.
Nach einer Weile streckte ich einfach meine Hand aus, legte sie auf die rauhe Rinde des Baums, seufzte und kehrte zu Vaters Turm und dem Mrinkodex zurück, der auf mich wartete.
Vater und ich statteten während des nächsten halben Jahrhunderts der Insel der Winde gelegentlich Besuche ab – für gewöhnlich zu den Sitzungen des Alornischen Rats. Cherek, Drasnien und Algarien hatten neue Könige, aber Vater und ich standen ihnen nicht so nah wie damals Bärenschulter, Stiernacken und Flinkfuß. Da zwischen unseren einzelnen Besuchen ziemlich lange Zeitspannen lagen, wurde mir nur zu deutlich bewußt, daß Daran und Kamion jedes Mal, wenn wir auf die Insel kamen, sichtlich gealtert waren.
Mein Vater hatte gewisse Andeutungen fallen lassen, aber vermutlich hätte einer von uns es besser unverblümt ausgesprochen. Unsere Situation ist höchst eigenartig, und sie erfordert bestimmte Anpassungen. Wenn jene altern, die wir kennen und lieben gelernt haben, ist es lebensnotwendig für uns, uns von ihnen zurückzuziehen, denn die Alternative lautete mit ziemlicher Sicherheit Wahnsinn. Endlose Trauer wird schließlich jeden menschlichen Geist zerstören. Wir sind nicht herzlos, aber wir haben Pflichten, und diese Pflichten zwingen uns dazu, unsere Funktionsfähigkeit zu erhalten. Als ich beobachtete, wie Daran und Kamion zu brummigen, jammernden alten Männern wurden, wußte ich, daß sie uns schließlich verlassen würden und daß ich nichts, aber auch gar nichts dagegen tun konnte.
Das Tal bedeutet für uns eine Art Refugium – einen Ort, wo wir unsere Trauer verarbeiten und letztendlich überwinden können –, und die Gegenwart des Baums dort ist eine absolute Notwendigkeit.
Wenn ihr eine Weile darüber nachdenkt werdet ihr verstehen, dessen bin ich gewiß.
Beizeiten erhielten wir die unvermeidliche Nachricht, daß sowohl Daran als auch Kamion von uns gegangen waren. »Sie waren ohnehin sehr müde, Pol.« Das war alles, was mein Vater sagte, bevor er sich wieder seinen Studien zuwandte.
Mein erstes Jahrhundert neigte sich seinem Ende entgegen, als Onkel Beldin aus Mallorea zurückkam.
»Brandgesicht ist immer noch in Ashaba«, berichtete er, »und drüben wird nichts geschehen, ehe er nicht seine vier Wände dort verläßt.«
»Ist Zedar noch bei ihm?« fragte Vater.
»O ja. Zedar klebt an Torak wie ein Blutegel. Die Nähe zu einem Gott scheint Zedars Selbstwertgefühl zu heben.«
»Manche Dinge ändern sich nie, nicht wahr?«
»Nicht, was Zedar betrifft, nein. Unternimmt Ctuchik irgend etwas Interessantes?«
»Nichts, was so folgenschwer wäre, daß es Wellen schlägt. Versteckt sich Urvon noch immer in Mal Yaska?«
Beldins Kichern klang bösartig. »Oh, ja, das tut er, Belgarath. Von Zeit zu Zeit fliege ich in seine Nähe und metzele ein paar Grolims nieder. Einen oder zwei lasse ich immer am Leben – nur um sicherzustellen, daß Urvon davon erfährt, daß ich noch da draußen auf ihn warte und mich auf das Vergnügen seiner Gesellschaft freue. Mir ist zu Ohren gekommen, daß er sich bei solchen Gelegenheiten üblicherweise in das Verlies zurückzieht. Er scheint der Ansicht zu sein, dicke Steinwände könnten mich davon abhalten, ihn aufzusuchen.« Er blinzelte versonnen. »Wenn ich zurückgehe, dringe ich vielleicht in seinen Tempel ein und pflastere ihn mit toten Grolims – nur damit er weiß, daß es wirklich keinen Ort auf dieser Welt gibt, wo er sich vor mir verstecken kann. Dafür zu sorgen, daß Urvons Nervosität nie nachläßt, ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Welche Art von Festlichkeiten haben wir geplant?«
»Festlichkeiten? Was für Festlichkeiten?«
»Polgaras hundertster Geburtstag, du gefühlloser Klotz. Du glaubst doch nicht etwa , ich hätte für das Vergnügen deiner Gesellschaft den ganzen langen Weg hierher zurückgelegt, oder?«
Mein Geburtstagsfest fiel
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