Polgara die Zauberin
Zeit zum Trauern. Gelane war beinah sechs, aber das war natürlich kein reifes Alter. Die gegenwärtige Lage allerdings gebot einen Bruch mit der Tradition. Ich setzte Gelane vor mich und erzählte ihm, wer er wirklich war.
Die Kindheit und frühe Jugend eines verwaisten Erben sind immer die gefährlichsten Zeiten meiner Aufgabe. Ich hatte geschworen, das rivanische Geschlecht zu verteidigen und zu beschützen, und ein fünf oder sechs Jahre alter Junge, dessen Vater gestorben ist, ist der einzige Vertreter dieser Blutslinie. Kleine Mädchen sind vernünftig. Ihre unvernünftige Phase tritt später ein. Kleine Jungen hingegen werden unvernünftig, sobald sie laufen lernen. Garion beispielsweise mußte unbedingt mit einem Floß auf einem Teich auf Faldors Gehöft herumpaddeln, ohne sich die Mühe zu machen, vorher schwimmen zu lernen. Wenn ich manchmal etwas überängstlich wirke, dürft ihr den Grund dafür getrost in jenen etwa vierzehn Jahrhunderten suchen, während derer ich mich bemühte, die kleinen Jungen daran zu hindern, sich selbst umzubringen. Es geschah in der Hoffnung, Gelane ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie wichtig es war, zumindest ein bißchen vorsichtig zu sein, daß ich ihm von seinem Erbe berichtete. Ich betonte die Tatsache, daß das Geschlecht mit ihm aussterben würde, sollte er es schaffen, sich umzubringen. Er schien mich zu verstehen, aber bei kleinen Jungen weiß man das nie genau.
Dann kam jener regnerische Abend, als Mutters Stimme mich aus meiner Versunkenheit in einen Abschnitt des Mrinkodex riß, der sich scheinbar auf die derzeitige Situation bezog. »Polgara«, sagte sie in einem seltsam sanften Tonfall, »es ist Zeit. Komm auf die nördlichen Wehrgänge. Ich warte dort auf dich.«
Ich legte die Schriftrolle beiseite und verließ mein Gemach tief im Innern der mächtigen Mauern der Feste, um die schier endlosen Stufen hoch zur Brustwehr des berggleichen Baus zu erklimmen.
Es nieselte, und der Wind blies gerade so stark, um den Aufenthalt dort oben zu einer recht unerfreulichen Angelegenheit zu machen. Mutter stand in ihrem schlichten braunen Bauernkleid auf der Brustwehr und schaute in die regnerische Nacht hinaus. Sie war wirklich dort, aber ich hatte mich noch nicht ganz an ihre körperliche Gegenwart gewöhnt.
»Da bin ich, Mutter«, sagte ich.
»Gut«, antwortete sie. Ihre goldenen Augen waren mir ein Rätsel. »Entspann dich einfach, Pol. UL hat mir genau erklärt, was zu tun ist. Überlaß dich währenddessen ganz meiner Führung.«
»Natürlich.« Ich hatte trotzdem Angst.
»Es tut nicht weh, Pol«, sagte sie mit einem kaum merklichen Lächeln.
»Ich weiß, aber etwas zum erstenmal zu tun, macht mich immer ein ganz klein wenig nervös.«
»Betrachte es als ein Abenteuer, Pol. Nun, zuerst schaffen wir das Bild einer Eule, und die Einzelheiten müssen sich genau entsprechen – bis in die letzte Federspitze, um genau zu sein.«
Es dauerte dieses erste Mal eine Weile. Mit der Gattung Eule als solcher waren wir beide vertraut, aber für das Bild eines bestimmten Vogels mußten wir eine Anzahl feinster Unterschiede ausgleichen.
»Was meinst du?« fragte Mutter, nachdem wir mehrere Widersprüche beseitigt hatten.
»Für mich sieht es eulig genug aus.«
»Ganz meine Meinung. Nun denn, wir müssen es gleichzeitig tun, also übereile nichts. Die tatsächliche Vereinigung setzt ein, bevor wir mit dem Bild verschmelzen. Sie beginnt in dem Moment, in dem wir uns verflüssigen, so hat UL es mir wenigstens erzählt. Die Vereinigung ist nahezu abgeschlossen, bevor wir in die Vogelgestalt einfließen.«
»Ich glaube, ich verstehe, warum, ja.«
»Das wird nicht leicht für dich, Pol. Ich bin so oft in deinen Gedanken gewesen, daß ich sehr vertraut mit dir bin, aber du wirst Dingen begegnen, die dir fremd sind. Ich bin nicht als Mensch auf die Welt gekommen, und in mir steckt viel vom Wolf. Ich habe ein paar Instinkte, die dir vermutlich nicht gefallen werden.«
Ich versuchte zu lächeln. »Ich werde versuchen, daran zu denken.«
»Also gut, vorwärts. Fangen wir an.«
Ich kann es einfach nicht beschreiben, also versuche ich es erst gar nicht. Es gibt einen Moment im Prozeß des Gestaltwandelns, dem ich bis dahin nicht viel Beachtung geschenkt hatte. Ich meine jenen ganz kurzen Augenblick, wenn sich das gesamte Ich im Übergang von der eigenen in die andere Gestalt befindet. Mutters Wortwahl hinsichtlich des ›verflüssigen‹ trifft es wirklich recht genau. In gewisser Weise schmilzt
Weitere Kostenlose Bücher