Polgara die Zauberin
» Das reicht! Bring mir das Lesen bei!«
»Aber natürlich, Pol«, sagte er. »Wenn du so darauf erpicht bist es zu lernen, warum hast du es dann nicht schon früher gesagt?«
Und so begannen wir mit der Arbeit. Mein Vater ist Jünger, Zauberer, Staatsmann und manchmal General, aber mehr als alles andere ist er Lehrer – wahrscheinlich der beste der Welt. In erstaunlich kurzer Zeit brachte er mir Lesen und Schreiben bei – vielleicht, weil das erste, was er mir aufschrieb, mein eigener Name war. Ich fand, daß ich ziemlich gut aussah auf dem Papier. Innerhalb kürzester Frist versenkte ich mich in seine Bücher und Schriftrollen, getrieben von einem immer stärker wachsenden Wissensdurst. Ich habe allerdings einen Hang dazu, mit den Büchern zu streiten, und das bereitete Vater ein paar Probleme, vermutlich, weil ich laut stritt. Offenbar konnte ich nicht anders. Dummheit, ob in gesprochener oder geschriebener Form, empfinde ich als persönliche Beleidigung. Ich fühle mich verpflichtet, sie zu korrigieren. Diese Angewohnheit hätte keine Probleme aufgeworfen, wenn ich allein gelebt hätte, aber Vater war mit mir im Turm, und er wollte sich auf seine eigenen Studien konzentrieren. Wir führten lange Gespräche darüber, wie ich mich entsinne.
Das Lesen war anregend, aber noch anregender waren unsere abendlichen Diskussionen über die verschiedensten Themen, die mir während meines Studiums den Tag über begegnet waren. Es begann alles an einem Abend, als Vater mich völlig unschuldig fragte: »Nun, Pol, was haben wir denn heute gelernt?«
Ich erzählte es ihm. Dann zählte ich ihm meine Einwände gegen das soeben Gelesene auf – entschlossen, ja herausfordernd.
Nie läßt Vater die Gelegenheit zu einem guten Streit verstreichen, und so verteidigte er zwangsläufig seine Texte, während ich sie angriff. Nach einigen dieser so vergnüglich verbrachten Abende entwickelten sich unsere Dispute zu einer Art Ritual. Es ist angenehm, einen Tag so zu beschließen.
Unsere Streitereien waren nicht ausnahmslos intellektueller Natur. Unser Besuch auf der Insel der Winde hatte dazu geführt, daß ich mir meiner äußeren Erscheinung bewußter geworden war, und folglich widmete ich ihr auch erhöhte Aufmerksamkeit. Vater nannte das Eitelkeit und das war der Grund häufiger Meinungsverschiedenheit.
Dann, frühmorgens im Frühling, vernahm ich Mutters Stimme, noch ehe ich das Frühstück zubereitet hatte. »Du machst das alles sehr nett, Pol«, sagte sie, »aber es gibt noch andere Dinge, die du lernen musst. Lege deine Bücher für heute beiseite und komme zum Baum. Dein Vater soll dir beibringen, deinen Verstand zu nutzen. Ich werde dir beibringen, wie du deinen Willen benutzt.«
Also stand ich nach dem Frühstück vom Tisch auf und erklärte: »Heute streife ich ein bißchen in der Gegend herum, Vater. Ich fühle mich langsam ein wenig eingeengt hier im Turm. Ich brauche frische Luft. Ich suche Kräuter und Wurzeln für unser Abendessen heute.«
»Keine schlechte Idee«, stimmte er mir zu. »Deine Argumente sind in letzter Zeit etwas angestaubt. Möglicherweise bringt die Frischluft ein bißchen mehr Klarheit in deine Gedanken.«
»Möglicherweise«, sagte ich, widerstand aber der Versuchung, ausführlicher auf diese versteckte Beleidigung einzugehen. Dann stieg ich die Wendeltreppe hinunter und trat in die Morgensonne hinaus.
Es war ein wundervoller Tag, und das Tal ist einer der lieblichsten Orte auf der Welt. So ließ ich mir also Zeit, während ich durch das sattgrüne, kniehohe Gras zu jener geheiligten Niederung strich, wo der Baum in seiner Mächtigkeit die Zweige ausbreitet. Als ich mich ihm näherte, begrüßten mich meine Vögel mit Gesang, schwebten über mir in der klaren, sonnenhellen Morgenluft.
»Wo bist du so lange geblieben, Pol?« fragte Mutters Stimme.
»Ich habe den Morgen genossen«, antwortete ich laut. Niemand sonst war in der Nähe, so daß keine Notwendigkeit bestand, es auf die andere Weise zu tun. »Was werden wir heute unternehmen, Mutter?«
»Deine Bildung vorantreiben, was sonst«
»Ich hoffe, deine Lektionen sind nicht so verstaubt wie Vaters es manchmal sind.«
»Ich glaube, es wird dir gefallen. Der Bereich ist jedoch in etwa derselbe.«
»Über welchen Bereich sprechen wir?«
»Den Geist, Pol. Bis zu diesem Zeitpunkt hast du gelernt dein Talent in der äußeren Welt zu benutzen. Jetzt wenden wir uns nach innen.« Sie legte eine Pause ein, als suche sie nach der besten Möglichkeit, ein
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