Polgara die Zauberin
keine Farbe hat anhand derer man ihn erkennt«
»Was passiert, wenn ich dich nicht wieder aufwecken kann?«
»Du wirst es nicht mit mir machen. Wo ist der nächste Alorner?«
»Das wären die Zwillinge«, gab ich zur Antwort. »Denk es nicht logisch durch, Pol. Schicke deine Gedanken aus und versuche, sie mit deinem Geist zu finden.« »Ich werde es versuchen.« Ich schickte also meine Gedanken auf die Suche nach jenem charakteristischen Türkis aus, das den nichtrivanischen Alornern zu eigen ist. Ich brauchte nicht allzu lange. Natürlich wußte ich, wo sie sich aufhielten.
»Gut«, lobte mich Mutter. »Und jetzt stellst du dir eine dicke Wolldecke vor.«
Ich fragte nicht, warum; ich tat es einfach.
»Warum weiß?« wollte Mutter voller Neugier wissen. »Das ist ihre Lieblingsfarbe.«
»Oh. In Ordnung, also jetzt breite sie über sie.«
Ich gehorchte, und dabei fiel mir auf, daß meine Hände feucht wurden. Mit dem Verstand zu arbeiten, ist fast so hart, wie die Arbeit mit Armen und Rücken. »Schlafen sie?«
»Ich glaube, ja.«
»Geh besser nachschauen und vergewissere dich.« Ich nahm die Gestalt einer gewöhnlichen Rauch schwalbe an. Die Zwillinge öffnen bei schönem Wetter immer ihre Fenster, und ich hatte schon oft Schwalben ihren Turm ein und ausfliegen sehen. Ich flog zu den Türmen und flatterte durch das Fenster der Zwillinge. »Nun?« rief Mutters Stimme mir zu. »Schlafen sie?« »Es hat nicht geklappt, Mutter. Ihre Augen stehen noch offen.« Weil ich den Zwillingen meine Anwesenheit nicht verraten wollte, schickte ich meine Gedanken stumm auf Reisen.
»Bewegen sie sich überhaupt noch?«
»Nein. Jetzt, wo du es erwähnst – sie wirken wie zwei Statuen.«
»Versuche, direkt auf ihre Gesichter zuzufliegen. Sieh, ob sie zusammenzucken.«
Ich flog – sie zuckten nicht. »Nicht die geringste Regung«, erstattete ich Meldung.
»Dann hast du es doch geschafft. Versuche, ihre Gedanken mit deinen zu finden.«
Ich versuchte auch das, doch um mich herum war nichts als Stille. »Ich stoße auf nichts, Mutter.«
»Du hast das sehr rasch begriffen. Komm zurück zum Baum, und dann erlösen wir sie wieder.«
»Einen Moment noch«, sagte ich. Dann ortete ich meinen Vater und schaltete auch seine Gedanken aus. »Warum hast du das getan?« fragte Mutter.
»Nur der Übung willen, Mutter«, erwiderte ich unschuldig. Ich wußte, daß es nicht sehr nett von mir war, aber ich konnte einfach nicht widerstehen.
In den folgenden Wochen lehrte Mutter mich noch andere Wege, sich am Geist eines Menschen zu schaffen zu machen. Da gab es den höchst nützlichen Kniff, Erinnerungen zu löschen. Ihn habe ich viele Male angewendet. Manchmal war ich gezwungen, Dinge auf ungewöhnliche Weise zu erledigen. Und es wäre nicht gut wenn die Zeugen dieser Taten wilde Geschichten darüber verbreiteten. Es ist oft viel leichter, die Erinnerung an ein Ereignis zu löschen, als mit plausiblen Erklärungen aufzuwarten.
Eng damit verwandt ist der Kunstgriff, jemandem falsche Erinnerungen einzupflanzen. Wenn man beides miteinander verknüpft vermag man die Wahrnehmung eines Menschen hinsichtlich eines jeden beliebigen Ereignisses entscheidend zu verändern.
Mutter hat mir auch beigebracht, zu ›wachsen‹ – sich grenzenlos auszudehnen. Dieses Zauberkunststück habe ich nicht sehr oft angewendet, denn es ist alles andere als unauffällig.
Dann brachte sie mir bei – daß jeder Trick für gewöhnlich sein Gegenstück besitzt –, wie man ›schrumpft‹, also seine Größe verringert, bis man nahezu unsichtbar wird. Dieser Kunstgriff ist mir schon sehr nützlich gewesen, insbesondere, wenn ich hören wollte, was Leute sagten, ohne dabei entdeckt zu werden.
Diese beiden Zauberkunststücke sind eng mit dem Vorgang des Gestaltwerdens verwandt, und ich erlernte sie recht leicht.
Außerdem erfuhr ich, wie man unbeachtet bleibt. Das bewirkt fast dasselbe wie der Zauber, der unsichtbar macht. Da ich jedoch zu jener Zeit immer noch unter der Krankheit des Erwachsenwerdens litt, sagte mir die Vorstellung, in den Hintergrund zu treten, nicht sonderlich zu. Alle Heranwachsenden haben ein dringendes Bedürfnis, wahrgenommen zu werden, und beinahe all ihr Handeln zielt darauf ab, Beachtung zu finden: ›Seht mich an! Seht, wie wichtig ich bin!‹ Unsichtbarkeit ist sicher nicht der beste Weg, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das ›Dinge machen‹ – Schöpfung, wenn ihr wollt – stellte in mancherlei
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