Polgara die Zauberin
erdenklichen Behandlung, die meinen Lehrern und mir einfiel, verschlechterte ihr Zustand sich weiterhin. Sie entglitt mir, und es gab nichts, was ich dagegen tun konnte. Auch ich hatte mich mittlerweile völlig verausgabt, und seltsame Gedanken begannen meinen erschöpften Geist zu verdunkeln. Ich habe nur noch wenig klare Erinnerungen an jene schrecklichen zehn Tage, aber ich erinnere mich noch gut daran, wie Beltiras Stimme mich gegen Mitternacht erreichte, während ein tosender Orkan den Schnee um die Türme der Zitadelle wirbelte: »Pol! Wir haben Belgarath gefunden! Er ist schon auf dem Weg zur Insel!«
»Den Göttern sei Dank!«
»Wie geht es ihr?«
»Überhaupt nicht gut Onkel, und auch mich verläßt langsam die Kraft«
»Halte noch ein paar Tage durch, Pol. Vater kommt.«
Doch wir hatten keine paar Tage mehr. Müde saß ich während der nicht enden wollenden Stunden jener langen, wilden Nacht am Bett meiner Schwester. Ungeachtet der Tatsache, daß ich auch den letzten Rest meines Willens in ihren ausgezehrten Körper pumpte, konnte ich spüren, wie sie mir tiefer und tiefer in die Dunkelheit entglitt.
Und dann tauchte Mutter an meiner Seite auf. Diesmal war es nicht nur ihre Stimme. Sie war tatsächlich da, und sie weinte unverhüllt »Laß sie gehen, Pol«, sagte sie zu mir.
»Nein! Ich lasse sie nicht sterben!«
»Ihre Aufgabe ist erfüllt, Polgara. Du mußt sie gehen lassen. Wenn du das nicht tust, verlieren wir euch beide.«
»Ich kann ohne sie nicht weiterleben, Mutter. Wenn sie geht, gehe ich mit ihr.«
»Nein, das wirst du nicht. Es ist nicht erlaubt. Laß deinen Willen los.«
»Ich kann nicht, Mutter. Ich kann nicht. Sie ist der Mittelpunkt meines Lebens.«
»Tu es, Tochter. Der Meister befiehlt es – und UL befiehlt es auch.«
Ich hatte noch nie zuvor von UL gehört. Merkwürdigerweise hatte ihn niemand in meiner Familie je vor mir erwähnt. Starrköpfig wie ich war, fuhr ich jedoch damit fort, meinen Willen auf meine sterbende Schwester zu richten.
Und dann begann die Wand neben Beldarans Bett zu schimmern, und in den Steinen selbst vermochte ich eine undeutliche Gestalt auszumachen. Es war fast, als blicke man in die schimmernden Tiefen eines Waldsees, um zu sehen, was unter der Oberfläche lag. Die Gestalt, die ich dort erschaute, war in weiße Gewänder gehüllt, und das Gefühl, das ihre bloße Anwesenheit vermittelte, war überwältigend. Ich habe mich viele Male in meinem Leben in der Gegenwart von Göttern aufgehalten, aber eine Präsenz wie die von UL ist mir nie begegnet.
Dann war das Schimmern verschwunden, und UL selbst stand mir am Bett meiner Schwester gegenüber. Sein Haar und sein Bart waren wie Schnee, aber andere Zeichen von Alter gab es keine auf diesem ewigen Antlitz. Er hob eine Hand und hielt sie über Beldarans Gestalt, und während er das tat, spürte ich, wie mir mein Wille zurückgegeben wurde. »Nein!« schrie ich. »Bitte! Nein!«
Doch er überhörte meinen tränenreichen Protest »Komm mit mir, geliebte Beldaran«, sagte er sanft. »Es ist nun Zeit zu gehen.«
Und ein Licht durchflutete den Körper meiner Schwester. Das Licht schien emporzusteigen, als stoße ein letzter Seufzer es hinaus aus der leeren Hülle, die alles war, was von ihr blieb. Das Licht hatte Beldarans Gestalt und Gesicht, und es streckte seine Hand aus und ergriff die von UL.
Und dann blickte der Vater der Götter mir geradewegs in die Augen. »Lebe wohl, geliebte Polgara«, sagte er zu mir, und dann schimmerten die beiden leuchtenden Gestalten zurück in die Wand.
Mutter seufzte. »Unsere Beldaran ist nun bei UL.« Ich aber warf mich über den Körper meiner toten Schwester und begann hemmungslos zu weinen.
K APITEL 10
Mutter war nicht mehr bei mir. Ich empfand eine furchtbare Leere, während ich mich an meine tote Schwester klammerte, schluchzte und meine Trauer herausschrie. Der Mittelpunkt meines Lebens war fort, und der ganze Rest brach in sich zusammen.
Ich erinnere mich nur sehr ungenau an das, was im weiteren Verlauf jener schrecklichen Nacht geschah. Ich glaube, es kamen Menschen in das Sterbezimmer meiner Schwester, aber ich erkannte ihre Gesichter nicht. Es wurde geweint, dessen bin ich mir ziemlich sicher, aber ich weiß es nicht mehr genau.
Und dann war Arell da, praktisch, verläßlich, ein Fels in der Brandung, an den ich mich klammern konnte. Sie hielt mich in ihren Armen und wiegte mich, bis irgend jemand – Argak, glaube ich – ihr einen Becher reichte. »Trink das, Pol«,
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