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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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stellt sich die Frage, ob die Zeit für verbesserte Sicherheitsvorschriften im europäischen öffentlichen Verkehr gekommen ist. Unbestätigten Informationen zufolge steht die Einführung neuer Sicherheitsstandards bereits auf der Agenda der Brüsseler Kommission. Das war’s.» Hammel lehnt sich zurück. «Und jetzt?»
    «Jetzt lassen wir uns eine Geige bauen, Watson.»
    «Was?»
    «Wie viele Geigenbauer gibt es in … in diesem Ort?»
    «Méru.»
    «Genau. Das kann ja nicht so groß sein, ich hab nie davon gehört.»
    «Méru ist eine Kleinstadt nördlich von Paris; sie hat circa zwölf- bis dreizehntausend Einwohner.»
    «Ich fass es nicht. Sie sind mir manchmal ein Rätsel, Hammel.»
    Über Hammels feiste Backen zieht sich ein Hauch von Rosarot. «Danke, Chef. Ich bin halt furchtbar frankophil. Die Zahl der Geigenbauer in Méru müsste ich aber trotzdem nachschauen – interessante Frage eigentlich.» Schon wendet er sich wieder seinem Laptop zu, schon schweben seine Finger adlergleich über der Tastatur, als er auf einmal innehält. «Was wollen Sie eigentlich von diesem Toten?»
    «Seine Witwe trösten», antwortet Polivka grimmig.
    Hammel stiert ihn an. Auf seiner Miene kann man förmlich mitverfolgen, wie sich ein bescheidener elektrischer Impuls durch Hirnsynapsen quält, um nach langer beschwerlicher Reise sein Ziel zu erreichen.
    «Mein Gott», stößt Hammel hervor, «diese Sophie ist … die Französin von heut früh!» Er greift nach seinem frisch gefüllten Schnapsglas. «Noch ein Grappa!», krächzt er Richtung Budel, ehe er das Stamperl leert.

    Dass Hammel sich die nächsten zehn Minuten in abstrusen Phantasien ergehen wird, wie die Todesfälle bei Paris und Wien zusammenhängen, lässt sich nicht vermeiden. Unterspült vom Alkohol, sind seine Luftschlösser so instabil wie nie zuvor. Als er beginnt, davon zu schwadronieren, dass die Französin sich wahrscheinlich selbst mit Klebeband gefesselt und ins Klo gesperrt hat, reicht es Polivka. Er geht auf die Toilette.
    Als er wieder an den Tisch tritt, hat sich Hammel schon auf den französischen gelben Seiten eingeloggt. Unter dem Stichwort luthier sind für die Stadt Méru zwei Einträge verzeichnet: ein Jacques Gautard und ein Jacques-Yves Guillemain.
    «Scheiß Pech», sagt Polivka.
    Doch Hammel lässt sich nicht beirren. Er öffnet das Fenster der Suchmaschine und tippt die Begriffe Sophie Gautard und Méru in den Balken. Dann klickt er die Bildsuche an. Kein Treffer.
    «Okay … Wir probieren’s mit Sophie Guillemain .»
    Acht Fotos bauen sich auf dem Bildschirm auf, acht Porträts, die alle das gleiche Frauengesicht zeigen.
    «Das ist sie, wir haben sie!», ruft Polivka aufgeregt. «Hammel, Sie sind ein verfluchtes Genie!»
    «Da, schauen Sie her», sagt Hammel, «die Madame hat sogar eine eigene Website.»
    Vor Polivkas Augen leuchtet jetzt ein buntes, animiertes Bild auf dem Monitor auf. Im Hintergrund zwei wehende Fahnen: die Trikolore Frankreichs und die schwarz-rot-goldene Flagge Deutschlands. Vorne die Frau aus dem Zug. Sie lächelt. Unter ihrem Kopf die Schrift: Sophie Guillemain, interprète et traductrice assermentée.
    «Was heißt das?» Polivkas Stimme klingt heiser.
    «Dolmetscherin und vereidigte Übersetzerin», sagt Hammel.

6
    Gerne wird behauptet, dass man heute komfortabler reisen kann als je zuvor. Tatsächlich aber stürzt sich der Reisende (sofern ihm kein Privatjet zur Verfügung steht) in den Schlund eines immensen schikanösen Häckselwerks, das ihn seiner Nerven und seiner Würde beraubt, um ihn als mürbe, abgeschlaffte Hülle am Zielort auszuspucken.
    Wer nämlich
    1. fliegt, der muss sich einer ganz besonders ausgeklügelten Prozedur der Erniedrigung unterziehen, die damit beginnt, dass er sich spätestens zwei Stunden vor dem Start am Flughafen einzufinden hat, um sich
    a) durchleuchten,
    b) begrapschen,
    c) seiner Zahnpasta und seines Flachmanns berauben zu lassen und
    d) die verbleibenden eineinhalb Stunden Wartezeit mit zehn anderen Passagieren in einer knapp drei Quadratmeter großen, verglasten Rauchervitrine zu verbringen. («Mama, warum hat man die Menschen da eingesperrt?» – «Weil es böse, dumme Leute sind, mein Schatz.»)
    2. mit dem eigenen Wagen fährt, der tut das nicht bei Vogelgezwitscher und Sonnenschein auf leeren, idyllischen Bergstraßen, wie ihm das die Fernsehwerbung vor dem Ankauf seines Autos suggeriert hat. Stattdessen
    a) muss er sich den Vogel von anderen Fahrern zeigen lassen,
    b) kann

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