Polivka hat einen Traum (German Edition)
Gegenteil. Er hält es sogar erstmals für zwar unwahrscheinlich, aber möglich, dass es die Diätberaterin nur gut mit ihm gemeint haben könnte. Egal, denkt Polivka, verlorene Liebesmüh: Die Rohkost klebt jetzt ohnehin auf meinem Arsch.
Kurz nach halb ein Uhr mittags fährt der Zug im Pariser Ostbahnhof ein. Als Polivka und Hammel auf den Vorplatz treten, schüttet es in Strömen. Trotzdem setzen die zwei grauen, unrasierten Herren das erste Lächeln des Tages auf. Der eine, weil er französischen, also geheiligten Boden unter seinen Füßen weiß, der andere, weil er sich nun endlich eine Gauloise anstecken kann. Und beide, weil sie eine Dusche ohnehin schon dringend nötig hatten.
«Was jetzt?», fragt Polivka.
«Wir gehen zum Gare du Nord», erwidert Hammel.
«Zum was?»
«Zum Nordbahnhof.»
«Wie weit?»
«Nicht einmal eine Viertelstunde.»
Eineinviertel Stunden später stehen sie vor dem Nordbahnhof. Der Grund für die Verspätung ist Polivkas Vorschlag gewesen, unterwegs zwei Zahnbürsten zu kaufen. Nur zum Schein bedauernd, hat ihm Hammel daraufhin erklärt, gerade diese Gegend sei mit Drogerien schlecht bestückt; er wisse aber einen Laden in der Nähe, für dessen Besuch sie einen klitzekleinen Umweg in Kauf nehmen müssten. Hammel war in seinem Element, als er – bedachtsam jede Drogerie vermeidend – durch den Pariser Regen spazierte. Polivka trottete brav hinterdrein, ohne den Enthusiasmus seines Kollegen zu teilen. Mit Ausnahme Venedigs fand er alle neuzeitlichen Städte weitgehend identisch: Auf den gleichen grauen Straßen fuhren die gleichen Autos, in den Auslagen der gleichen Ladenketten konnte man die gleichen Waren betrachten. Nur die Sprache differierte. Und – zumindest in Paris – die Hautfarbe der Zuwanderer und Asylanten. Bei einem der zahlreichen afro-französischen Straßenhändler hat Polivka (sentimental, weil hinreichend verkatert) als Mitbringsel für seine Mutter einen handgeschnitzten Holzelefanten gekauft.
«Wo ist eigentlich der Eiffelturm?», fragt er Hammel, als die beiden – bis auf die Knochen durchnässt – den Bahnhof betreten.
«Fünf Kilometer weiter drüben im Südwesten, auf der anderen Seite der Seine. Mit der Métro wären wir in einer Viertelstunde dort. Wir könnten …»
«Nein», unterbricht ihn Polivka energisch. «Nein.»
Méru. Viel mehr ist dazu nicht zu sagen. Es ist eines jener Städtchen, die gerade klein genug sind, dass die Einwohner einander kennen, und gerade groß genug, dass sie einander nicht grüßen müssen. Im Département Oise gelegen, hat Méru, wie Hammel Polivka erläutert, in der vor- und frühindustriellen Zeit die führenden Manufakturen auf dem Gebiet der Perlmuttverarbeitung und Bürstenmacherei beherbergt. Registrierkassen, Akkordeons und Schreibmaschinen waren mit Tasten aus Méru versehen, aber auch die Herstellung von Zahnbürsten, die erst ab etwa 1830 allgemein gebräuchlich wurden, brachte der Region einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung.
«Ah, ja», sagt Polivka, «interessant.»
Sie überqueren den Platz vor der venezianerroten Bahnstation; es ist Punkt vier Uhr nachmittags. Der Regen hat inzwischen nachgelassen, nur ein leichtes Nieseln sorgt dafür, dass die klammen, zerknitterten Kleider nicht trocknen. Frisch geputzte Zähne mögen hilfreich sein, wenn einen jemand nah genug an sich heranlässt; doch die wenigen Passanten, die zu sehen sind, machen einen großen Bogen um die zwei vermeintlichen Clochards, die der Zug aus Paris – wie es scheint, versehentlich – hier ausgespuckt hat.
«Pardon, madame!», ruft Polivka. «Pardon, monsieur!»
Nach einer Weile wird es ihm zu bunt. Er stellt sich einer älteren Frau mit dicker Brille in den Weg und zückt seinen Ausweis. «Police, madame! Je … äh … Wie heißt jetzt diese Straße, Hammel?»
«Avenue Jean Sébastien Bach», erwidert Hammel, der an Polivkas Seite getreten ist. «Auriez-vous la gentillesse, chère madame, de nous indiquer où se trouve l’avenue Jean Sébastien Bach?»
Die Frau überlegt. «Ça doit être dans ce lotissement dans le nord-ouest», sagt sie dann. «Vous prenez cette direction là, c’est une petite promenade de pas plus de quinze minutes.»
«Merci beaucoup, madame.» Hammel verbeugt sich, während die Frau, so schnell sie kann, das Weite sucht.
«Was hat sie gesagt?», fragt Polivka.
«Wir müssen nach Nordwesten gehen.»
«Wie weit?»
«Nicht einmal eine Viertelstunde.»
«Wissen Sie was, Hammel? Lecken Sie
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