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Polivka hat einen Traum (German Edition)

Polivka hat einen Traum (German Edition)

Titel: Polivka hat einen Traum (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Slupetzky
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ob er des Schwimmens überhaupt noch mächtig ist.
    «Dank schön», sagt Polivka zum Wirten, der ihm den frisch gefüllten Bierkrug auf den Tisch stellt. «Sagen S’, war der Zeitungsmann schon da?»
    Eine Minute später schlägt er ein druckfrisches Exemplar der Reinen Wahrheit auf, jenes handlichen Tageblatts also, das gelernten Austriaken nicht nur als Fahrtenschreiber des Geschehenen, sondern vor allem als Routenplaner für das Kommende dient. In den Kolumnen der Reinen steht seit jeher die Zukunft Österreichs und seiner Bürger festgeschrieben; hier entscheidet sich die Wahl des abendlichen Fernsehsenders ebenso wie die des nächsten Bundeskanzlers. Hier werden Stars geboren, Gesetze gemacht und Budgets verteilt, und letztlich kann man hier auch lesen, wo man demnächst wohnen wird.
    Polivka beginnt, sich zu den Immobilieninseraten durchzublättern. Achtlos überfliegt er den innen- und außenpolitischen Teil und landet schon bald bei der Chronik, wo auf Seite sieben (offenbar unter dem redaktionell verankerten Thema Erotik ) gleich neben dem täglichen Pin-up-Girl über die neuesten Fälle von Frauenhandel, Vergewaltigung und Kinderpornographie berichtet wird. Polivka blättert weiter – und erstarrt.
    Die REINE WAHRHEIT vom 9. Juni 2012
    Sinnlose Tragödie auf der Franz-Josefs-Bahn
    Aufgrund eines Bremsmanövers des Frühzugs aus Tulln kam am Freitagmorgen einer der Passagiere, der Wiener Geschäftsmann Karl W. (62), so unglücklich zu Sturz, dass die herbeigeeilten Sanitäter nur noch seinen Tod feststellen konnten.
    W. ist damit schon das vierte Opfer, das der europäische Bahnverkehr heuer gefordert hat. Wie nämlich die REINE (exklusiv für ihre Leser) in Erfahrung bringen konnte, ereigneten sich in den letzten Wochen auch in englischen, spanischen und in französischen Zügen tödliche Zwischenfälle. So erlag erst vor zwei Wochen der 45-jährige Franzose Jacques G. den schweren Verletzungen, die er sich infolge eines Notstopps in der Nähe von Paris zugezogen hatte (im Bild die trauernde Witwe).
    Dabei ließe sich das sinnlose Sterben auf den Schienen leicht vermeiden, wenn unsere fürstlich bezahlten Vertreter in Brüssel endlich ihre Arbeit täten: Nach einer kürzlich veröffentlichten Studie bräuchten wir lediglich Sicherheitsvorschriften, wie sie im privaten Straßenverkehr schon lange gang und gäbe sind. Dass der Einbau von Sicherheitsgurten und eine generelle Anschnallpflicht in Bahn und Bus auf wenig Gegenliebe der Verkehrsbetriebe stoßen wird, ist klar – einerseits wegen der nötigen Investitionen, andererseits, weil die verantwortlichen Manager ohnehin mit teuren Dienstwägen statt mit der Bahn zu fahren pflegen.
    Die REINE aber fragt: Wie viel muss noch passieren, bis sich die hohen Herren in Brüssel endlich zur Gurtenpflicht in den europäischen Öffis durchringen? Für Karl W., Jacques G. und seine gebrochene Witwe (siehe Bild) kommt eine solche, längst fällige Maßnahme leider zu spät. Für unsere Kinder hoffentlich (!) nicht.
    Polivka starrt auf die Zeitung.
    «Einen doppelten Grappa», murmelt er dann, ohne aufzublicken.
    «Bitte?», tönte es von der Budel her.
    «Grappa!», brüllt Polivka. «Doppelt!»
    Es ist nicht der Artikel, der ihn so aus der Fassung bringt. Es ist das Foto, das kleine, leicht unscharfe Foto der verwitweten Französin: eine etwa vierzig Jahre alte Frau mit rötlich braunem Pagenkopf. Selbst auf dem schlecht gedruckten Bild kann Polivka ihre Augenfarbe erkennen.
    Bernsteinaugen.

    Als er um halb zehn ins Wirtshaus tritt, ist Hammel sichtlich darum bemüht, seine Verwunderung zu verbergen. Kurz vor neun hat Polivka ihn angerufen, um ihn, wie er sagte, ganz spontan auf ein privates Krügel einzuladen. Hammel hat auf diese Weise zwar den Schluss des abendlichen Fernsehfilms verpasst (der ihm, wie er sich eingestehen musste, ohnehin zu kompliziert gewesen war), doch wenn einem sein Vorgesetzter nach fünf Jahren der Zusammenarbeit erstmals einen abendlichen Drink spendieren will, hat man parat zu stehen, das gebietet die gute alte Beamtenehre, die, wie man ja weiß, aus je einem Drittel Opportunismus, Devotion und Neid besteht.
    Vor einer halben Stunde schon, am Telefon, hat Polivkas Stimme ein wenig befremdlich geklungen, die Konsonanten verschliffen und weich, die Vokale euphorisch. In der Zwischenzeit hat er zwei weitere Schnäpse konsumiert, sodass auch seine Körpersprache ins Barocke abzugleiten droht.
    «O Hammel, Licht und Stütze meines Alters!»

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