Polivka hat einen Traum (German Edition)
er die Sonne hinter Abgaswolken nur erahnen und
c) steht er zwischen Lärmschutzwänden im Stau.
Da der Schiffsverkehr zwischen Wien und Méru zu vernachlässigen ist, bleibt leider nur
3. die Bahn.
Es ist zwanzig vor vier, der Zug verlässt gerade Attnang-Puchheim, und der Grad von Polivkas Erschöpfung übertrifft inzwischen jenen seiner Übelkeit. An Schlaf ist trotzdem nicht zu denken. Im Schlaf zu den Traumzielen Europas , liest er am Deckblatt eines Werbeprospekts, das auf der handtellergroßen Ablage zwischen zwei schrumpligen Kiwis steckt. Euro Sleep Line: Raffinierte Abteile für optimale Platznutzung.
Polivka liest im Stehen: Die optimale Platznutzung der raffinierten Abteile hat keine Sitze vorgesehen, und aus der unteren Koje des Stockbetts quellen die Rundungen von Hammels eingekeiltem Wanst. Um in die obere zu gelangen, müsste Polivkas Gesamtzustand jener menschlichen Norm entsprechen, der diese mobile Abstellkammer offensichtlich zugedacht ist: schlank gewachsen, durchtrainiert, nicht im Geringsten klaustrophob und vor allem stocknüchtern, kurz: moderner europäischer Standard.
Ein Glück nur, dass Hammel und Polivka ohne Gepäck unterwegs sind. Nicht einmal die Kleider kann man irgendwo verstauen, ganz abgesehen davon, dass es akrobatischer Entfesselungskünste bedürfte, sich ihrer hier zu entledigen.
Nach dem Besuch auf Sophie Guillemains Website hat Bezirksinspektor Polivka seinem Kollegen den außerdienstlichen Befehl erteilt, die Homepage der Österreichischen Bundesbahnen anzusteuern. Es war schon zehn nach elf, und um den letzten Zug Richtung Méru noch zu erreichen, musste man, wie Hammel eruierte, kurz vor Mitternacht am Bahnhof Meidling sein.
«In München steigen Sie dann um», hat er zu Polivka gesagt, «zu Mittag sind Sie in Paris und gegen vier am Nachmittag …»
«Was soll das heißen, ich ?», ist ihm sein Chef ins Wort gefallen. «Sie kommen selbstverständlich mit!»
«Und was, bitte, sollen wir dem Oberst Schröck erzählen?»
«Heut ist doch Freitag, Sie alter Pariser, und bis Montagmorgen sind wir wieder da. Herr Wirt! Ein Taxi, zwei Stamperln und die Rechnung!»
Polivka versucht, die Falttür des Abteils zu öffnen. Er rüttelt, drückt und zieht, bis die gewitzte Konstruktion mit einem Mal nach innen klappt und Polivka nach hinten taumeln lässt. Noch ehe ihm der Fruchtsaft durch die helle Leinenhose dringt, weiß er bereits: Die beiden Kiwis sind nicht mehr.
Er zwängt sich durch den geburtskanalartigen Korridor, von dessen Ende ihm ein mattes Licht entgegenschimmert: Freiheit. Leben. Die Toilette. Wasser ist zwar keines vorhanden, wie Polivka feststellt, als er sich am Waschbecken die bräunlich grünen Flecken aus dem Hosenboden schrubben will, aber doch immerhin eine Sitzgelegenheit.
Jetzt eine Zigarette, denkt er, auf der Klobrille kauernd. Nur eine … Und schon ist Polivka eingeschlafen.
Die Weiterreise nach Paris gestaltet sich ein bisschen komfortabler. Aufgrund der verspäteten Ankunft in München haben Polivka und Hammel ihren Anschlusszug im Laufschritt gerade noch erreicht; vollkommen außer Atem quetschen sie sich auf zwei freie Sitze am Ende des Großraumwaggons.
Natürlich gleicht auch der einem zu engen und hermetisch abgedichteten Kondom; natürlich lassen sich die Fenster auch in diesem Zug nicht öffnen, und natürlich ist auch hier das Rauchen strengstens untersagt. Elf Nichtraucherwaggons noch einen zwölften für Tabakliebhaber anzuhängen, wäre ein geradezu bestialischer Verstoß gegen die Dogmen der westlichen Volksgesundheitsideologie. Es zählt schon lange nicht mehr, wie der Mensch nun einmal ist, nur noch, wie er zu sein hat. Um im hehren Kampf für reines Blut und langlebige Arbeitskräfte weitere Fronten zu eröffnen, hat man in den Zugängen zu den Waggons Plakate affichiert, die (neben durchgestrichenen Zigaretten, durchgestrichenen Skateboards, durchgestrichenen Eistüten, durchgestrichenen Fußbällen, durchgestrichenen kackenden Hunden und durchgestrichenen Mobiltelefonen) eine durchgestrichene Flasche zeigen. Darunter werden die Fahrgäste – in minuziös gegendertem Deutsch und Französisch – darauf hingewiesen, dass das Trinken alkoholischer Getränke auf den Sitzplätzen verboten ist. Aus Rücksicht auf die anderen PassagierInnen ersuchen wir Sie, Alkoholika nur noch in unserem komfortablen Speisewagen zu konsumieren.
Nicht, dass sich Polivka nach einem weiteren Glas Grappa oder auch nur Bier gesehnt hätte. Im
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