Polivka hat einen Traum (German Edition)
sich – gerade mit Lokalverbot belegt – auf den Asphalt hockt, um dem Wirten vor die Gasthaustür zu scheißen. Gründe mag es viele geben, aber einen sicher nicht: Berechnung. Denn Quantensprünge lassen sich nun einmal nicht berechnen, so viel steht in der Physik seit hundert Jahren fest.
Wie ferngesteuert tastet er nach dem zerknautschten Stückchen Stoff, das tief unter dem Portemonnaie vergraben in der Innentasche seiner Jacke steckt. Erst gestern Vormittag hat er es dort hineingeschoben, in der Umkleidekabine dieser Brüsseler Herrenboutique: Sophies lavendelfarbenes Höschen, leicht verfärbt von Polivkas Verdauungsfeuer. So, als hätte er den Kunstgriff hundertmal geübt, zieht er zugleich mit seiner anderen Hand das rosa Taschentuch aus dem Sakko des Fürsten, um es mit dem Höschen zu vertauschen. Souvenir hin oder her: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss, gerade in besonderen Zeiten, die ja auch besondere, vor allem aber rasche Maßnahmen erfordern: Schon macht Oppitz wieder kehrt; das Telefongespräch mit seiner unjagdbaren ministerialen Wildgans scheint beendet.
«Soda, Herr Bezirksinspektor.» Ein zufriedenes Schmunzeln auf den Lippen, tritt der Fürst zu Polivka. «Jetzt warten wir noch auf den Rückruf Ihres Kommandanten. Wenn er meinen Speicherchip gefunden hat, dann können Sie von mir aus Ihrer Wege gehen.»
Mein Kommandant, denkt Polivka, sein Chip. Sein oder nicht sein? Eins oder null, null oder eins?
Das Quantenchronometer hängt noch immer im dualen Niemandsland, die Zauberkiste ist noch immer fest versperrt, Schrödingers Katze schwebt noch immer zwischen Tod und Leben: ein zerzauster Kater ohne Boden unter seinen Pfoten, aber dennoch alles andere als schwerelos.
Sein Körper ist wie Blei.
Von einem Anfall jäher Übelkeit erfasst, lauscht er in sich hinein, lauscht auf das Pochen seines Herzens, das mit einem Mal von einem dumpfen Schmerz in seinen Eingeweiden übertönt wird – so, als wäre dort etwas zerrissen. Diese unsägliche Übelkeit, denkt Polivka, und plötzlich taucht das Bild von Oberst Schröck vor seinen Augen auf. Sein Kommandant. Die schlaffen gelben Tränensäcke, die vertrockneten, von braunen Altersflecken übersäten Hände, wie sie nach der Speicherkarte greifen, sie aus dem Computer ziehen. Jacques’ Video, die letzte Waffe und das einzige Beweisstück, das Sophie und er noch vorzuweisen hatten.
Diese Übelkeit. Und dieser Schmerz.
Am Boden zwischen seinen Füßen liegt ein Stein, faustgroß und kantig, Polivka hat ihn gerade erst bemerkt. Ein schöner, harter Stein, entstanden schon Äonen vor dem Anbeginn des Lebens, vor dem ersten Fressen und Gefressenwerden, vor dem ersten Menschen und dem ersten Wort und all den hohlen Phrasen von Gerechtigkeit und Mitgefühl und Anstand. ‹ Ich bin deine letzte Waffe›, raunt der Stein, ‹ ich bin dein letztes Argument.›
Wie gut er in der Hand liegt. Schwer und rau, die ockergelbe Oberfläche aufgewärmt von einem langen Junitag …
«Wollen wir derweil zurückmarschieren?», fragt Oppitz, während er sich bückt, um sein Sakko von der Holzbank zu nehmen. Das fürstliche Schädeldach schwebt jetzt nur eine knappe Armlänge von Polivka entfernt: ein Schweinskopf auf dem silbernen Tablett.
«Ja, meinetwegen.» Polivka steht auf. Dann trottet er die hohle Gasse abwärts hinter Oppitz her.
Zurück bleiben die Weinlaube, die Holzbank und ein ockergelber Stein.
Die Lage vor der Schindergasse hat sich nicht verändert. Stranzer hält sich noch immer im Wagen verschanzt; Sophie läuft auf und ab wie eine Löwin hinter Gittern, ihre Blicke schweifen unruhig zwischen dem Mercedes und dem Hohlweg hin und her. Ein paar Schritte entfernt steht Doktor Singh und sieht dem Gras beim Wachsen zu.
Als Polivka und Oppitz aus der Kellergasse treten, macht sich auf Sophies Gesicht Erleichterung breit. Eine Erleichterung, die allerdings nicht lange währt. «Mon dieu!», stößt sie hervor, als sie Polivka gegenübersteht. «Du siehst ja furchtbar aus!»
«Merci», gibt Polivka zurück, «das sind die Gene.» Er bemüht sich um ein spitzbübisches Grinsen.
«Hör mal, du schaust aus, als ob du gleich zusammenklappen würdest. Du bist leichenblass.» Sie wendet sich an Oppitz, bissig, hasserfüllt. «Was ist passiert? Was haben Sie mit ihm gemacht?»
«Nicht das Geringste, gnädige Frau. Der Herr Bezirksinspektor kann das sicherlich bestätigen. Wir haben nur geplaudert, ganz zivilisiert, und ein paar Missverständnisse
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