Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
können die ganze Welt beherrschen, aber eines darf kein einziger König: aus Liebe heiraten.«
»Aber eines darf kein einziger König …« Immer wieder erklingt der Refrain, die Gäste singen mit.
In einer Seitenstraße der Ulica Marszałkowska in Warschau, die sich nach den Plänen kommunistischer Stadtplaner wie eine breite
Narbe durch die Innenstadt zieht, befindet sich eine von drei Schwulenkneipen der Stadt. Eine Enklave. Hier trifft sich der
Abschaum, die westliche Dekadenz, hier treffen sich diejenigen, die in ein »Umerziehungslager« gehören – glaubt man der neuen
Regierungspartei, die mit aller Kraft an einer »moralischen Erneuerung« des Landes laboriert.
|94| An der Bar lehnt Alexej Suchzyn, ein verfolgter russischer Dissident. Er blickt mit glasigen Augen auf den tanzenden, zur
Diva verwandelten älteren Herrn, ein Bier trinkend, in langen Zügen. »Alexej«, ruft jemand quer durch die Bar, »Alexej, sing
mit!«
»Aber eines darf kein einziger König …«
Alexej Suchzyn mag nicht singen, nicht reden, er hat genug geredet den ganzen Tag, winkt ab, die Bilder der Vergangenheit
wurden gegenwärtig, als er mir heute von seinem Leben erzählte, von Knüppelschlägen auf Nieren und von seinen ausgerenkten
Armen in einem kaukasischen Militärquartier, von Tritten in den Unterleib. Die Bilder wollen nicht weichen, auch jetzt nicht,
in dieser Kneipe, sie spuken in seinem Hirn, sie haben sich ihm eingebrannt. Gespenster der Nacht.
Suchzyn hat keinen Paß, keine Aufenthaltsgenehmigung, kein Geld, keine Krankenversicherung, er darf nicht arbeiten. Die polnischen
Behörden haben ihn im Januar aufgefordert, das Land zu verlassen, die Abschiebung droht. Er lebt bei Freunden, in der Hinterstube
eines Lebensmittelgeschäfts, im Keller eines Bekannten, im Dachgeschoß einer polnischen Familie, die ihm Unterschlupf gewährt.
Den Aufenthaltsort stets wechselnd, den Rucksack und die Luftmatratze stets griffbereit, auf der Flucht vor dem polnischen
Grenzschutz, der auch in Warschau nach illegalen Immigranten sucht. »Eigentlich«, sagt Suchzyn, »gibt es mich gar nicht.«
|95| Wenige Stunden bevor er ins Warschauer Nachtleben zieht, treffen wir uns in einem Café des Hotels MDM, ein nur fünfstöckiger,
gleichwohl monströser Palast, den die Kommunisten einst ins Zentrum setzten, damit er den direkten Blick auf eine Kirche versperrt.
Suchzyn trägt einen dicken Mantel, hat dünnes, blondes Haar, ein blasses Gesicht. Er breitet Akten aus, mit noch geröteten
Fingern, der Warschauer Winter ist an diesem Tag streng, Krankenberichte sind darunter und Briefwechsel mit der polnischen
Flüchtlingsbehörde. Aus dem Fenster blickend, Tee trinkend, sieht man breite, menschenleere Straßen, Taxis, die vorübergleiten.
Suchzyns Akten belegen eine Geschichte, die sowohl der Vertreter der unabhängigen »Helsinki-Stiftung für Menschenrechte« in
Warschau als auch das polnische Büro des Hochkommissariats für Flüchtlingsfragen der Vereinten Nationen (UNHCR) überprüft
haben. Sein Antrag sei »wert, positiv beantwortet zu werden«, heißt es beim UNHCR. Die Organisation plädierte bei den polnischen
Behörden vergeblich dafür, Suchzyn als Flüchtling anzuerkennen. Drei Gründe führten die Vereinten Nationen an: Suchzyns Engagement
als Bürgerrechtler, seine Kriegsdienstverweigerung, die in Rußland mit Gefängnishaft bestraft würde, und seine Homosexualität.
Als Alexej Suchzyn seine Geschichte im Café des Hotels MDM erzählt, in dem wir die einzigen Gäste |96| sind, unterbricht er sich immer wieder selbst. »Ich habe das alles schon so oft erzählt«, sagt er dann und fährt mit der flachen
Hand über die Tischplatte, als gelte es, einen bösen Traum wegzuwischen. Suchzyns Geschichte beginnt in Grosnij. Das russische
Militär startet im Januar 1995 eine Offensive gegen die rebellische Hauptstadt. Zehntausende Zivilisten, in Wagenkolonnen,
strömen in die umliegenden Republiken der russischen Föderation. Auch ins südrussische Pjatigorsk am Vorgebirge des Kaukasus,
Suchzyns Heimatstadt, gelegen an den satten Hängen des Berges Maschuk, am Ufer des Podkumok, einst ein Kurort russischer Aristokraten.
Klassizistische Hausfassaden tragen noch heute die Patina der Zarenzeit. Eines Morgens waren sie »ein fach da«, erinnert sich Suchzyn, »Tschetschenen mit Frostbeulen im Gesicht, mit starrem, leerem Blick«, den Bombenhagel im Rücken,
sie streunten durch die Stadt wie
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