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Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen

Titel: Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Adam Soboczynski
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»lebendige Leichen«.
    Suchzyn war jung, 24 Jahre alt, er hatte gerade sein Jurastudium abgeschlossen, und zusammen mit Freunden plante er, Menschenrechtsverletzungen
     anzuprangern, den Flüchtlingen mit Rechtsbeihilfe zur Seite zu stehen. Seine kleine Gruppe mit dem Namen »Organi sation zur Entwicklung der Rechte und Freiheiten des Menschen und des Bürgers« war den russischen Behörden schnell ein Begriff.
    Ein Nachmittag im April des Jahres 1995 sollte Suchzyns Leben verändern. In einer Seitenstraße von Pjatigorsk |97| greift ihn ein Trupp nationalistischer Paramilitärs auf. Sie werden »Kosaken« genannt. Suchzyn wehrt sich, doch die Militärs
     wissen, wie man Finger bricht, schleppen ihn in ein Quartier, fesseln ihn an einen Heizkörper.
    Suchzyn wacht im Krankenhaus wieder auf. Er hatte während des mehrstündigen Verhörs zuvor das Bewußtsein verloren. Was sagten
     sie noch, die Kosaken? Das fällt ihm sofort ein, trotz der Schmerzen. Das hat er behalten, bis heute, sie sagten: »Das ist
     nur der Anfang.« Sie sollten recht behalten. Suchzyns Bürgerrechtlergruppe ist mittlerweile aufgelöst worden; zwei ihrer Mitglieder,
     darunter die Gründerin Natalia Leonidowa, sind verschollen.
    Als Suchzyn Tage später humpelnd in die kleine Wohnung zurückkehrt, die er sich mit seiner Mutter teilt, liegt ein Brief auf
     dem Küchentisch. Er soll zum Militär eingezogen werden, um gegen die Tschetschenen zu kämpfen. Als Tschetschenenfreund und
     Homosexuellem kommt dies einem Todesurteil gleich. Er packt ein, was er nur tragen kann, steigt in einen Zug. Drei Tage dauert
     die Fahrt auf maroden Gleisen, ein langer, quälender Abschied vom kaukasischen Vorgebirge, durch die weite Leere der russischen
     Steppe, bis an die Weichsel, bis nach Warschau.
    »Ich würde gerne Mutter wiedersehen«, sagt Alexej Suchzyn, ein Satz, der ihn kurzzeitig in die Gegenwart reißt. Er nippt am
     Tee, blickt kurz aus dem Fenster, |98| hinaus in die Dämmerung. »Ich vermisse sie« – »Tęsknię za nią.«
    Als Suchzyn seiner Mutter in der Pjatigorsker Küche gesteht, daß er Männer liebt, ist er 22 Jahre alt. Zwei Tage spricht sie
     nicht mit ihm, am dritten Tag sagt sie, Alexej sei ihr Star, ihr Stern – »gwiazda«. Und ihr Stern könne sich wohl alles erlauben
     auf dieser Welt, »gut«, sagt sie, »wenn es denn sein muß«.
    Als Flüchtling wurde Suchzyn in Polen nicht anerkannt, der Prozeß zieht sich nun über ein Jahrzehnt, Arbeitserlaubnisse und
     Reisepapiere erhielt er immer nur für wenige Wochen. Hoffnung keimte dennoch auf, er lernte Polnisch und durfte mit einem
     staatlichen Universitätsstipendium Politologie und polnisches Recht studieren. Doch seine Anträge beim Flüchtlingsamt wurden
     aus formalen Gründen zurückgewiesen. Daß er als Kriegsdienstverweigerer und Dissident in ein Strafbataillon käme und dort
     als Homosexueller nach Berichten des Europarats besonderen Repressionen ausgesetzt sein dürfte, interessiert die polnischen
     Behörden nicht.
    Zweimal hat Suchzyn die Behörden erfolgreich verklagt, die verpflichtet wurden, seinen Antrag erneut zu prüfen. Doch der zuständige
     Generalsekretär der Warschauer Flüchtlingsbehörde, Jan Wȩgrzyn, sagte öffentlich, Suchzyn nerve, und fügte an: »Da klagt doch
     tatsächlich einer gegen eine Behörde.«
    Ein drittes Mal prozessiert nun Suchzyn, seine Unterlagen |99| würden nicht adäquat überprüft, so die Anklageschrift. Da erlassen die Behörden einen Abschiebeerlaß, bevor das Gericht überhaupt
     ein Urteil fällt.
    Das ethnisch ausgesprochen homogene Polen fährt eine rigide Ausländerpolitik, Wȩgrzyn sagt, Polen dürfe nicht wie die westlichen
     Staaten von Ausländern aus der Dritten Welt überschwemmt werden. »Ich komme mir vor«, sagt Suchzyn und lacht zum erstenmal
     an diesem Nachmittag, »wie eine Romanfigur von Kafka. Ich habe nur noch Paragraphen im Kopf.«
    »Aber eines darf kein einziger König …«
    Es spricht sich in der Kneipe herum, daß ich aus Berlin komme. Aus Berlin. Berlin mit rollendem R, mit der Betonung auf der
     ersten Silbe: »BERRlin.« Da sind solche Clubs nicht verborgen in Katakomben, sondern öffentlich, und auf den Straßen umarmen
     sich die Jungs in »Krreuzberg«. Eine Stadt, in der selbst der Bürgermeister sich öffentlich outet: »Wowerreit.« Überhaupt
     Deutschland, so liberal, so weltoffen, so sexy.
    Der Beschluß über Suchzyns Abschiebung fällt wie zufällig in eine Zeit, in der die polnische

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