Polski Tango - Eine Reise durch Deutschland und Polen
ratlos an, »hat sich in diesem Land verändert.«
Alexej Suchzyn überquert die Weichselbrücke, er ist auf dem Rückweg zu seinem Versteck, nachmittags wird er Schülern Nachhilfeunterricht
geben. Schwarz. In Russisch. Eine kleine Einkommensquelle. Durch dichten |103| Schnee blickt er auf den Pałac Kultury der Warschauer Skyline. »Ich dachte damals, als ich im Zug saß«, sagt Suchzyn, »Polen
ist ein europäisches, ein offenes Land.« Dann fällt ihm der Satz ein, den er bereits am Vortag sagte, und er lacht, laut,
gespenstisch: »Eigentlich gibt es mich gar nicht.«
Es gibt ihn, aber er heißt nicht Alexej Suchzyn. Er trägt einen anderen Namen, man sollte ihn besser nicht abdrucken. Die
Weichselbrücke schwingt unter seinen Beinen, erst langsam, dann immer heftiger. Man hört das metallische Gleiten der Tram,
die den breiten Fluß überquert.
Und ich beschließe, der Gegenwart Warschaus für eine Weile den Rücken zu kehren. Warschau hat mir seine strahlendsten Seiten
gezeigt und am Ende seine häßlichen, seine unschuldigen und seine sündigen. In Gedanken fliehe ich an die Masurische Seenplatte
meiner Kindheit. In die Zeit, als Leon noch lebte, mein Großvater, und auch Maria, meine Großmutter.
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DIE GÄNSE
EINES TAGES WAR DAS HIRSCHGEWEIH WEG. Mein Großvater Leon stand in seinem Wohnzimmer, blickte auf die leere Wand und schraubte
eine Flasche schwarzgebrannten Wodka auf. Er fixierte den weißen Fleck, der sich deutlich von der nikotingelben Tapete abhob,
und begann zu trinken; ein Getränk, das so scharf war, daß meine Großmutter Maria es für gewöhnlich vorzog, sich damit die
Beine einzureiben. Sie hatte ihn hintergangen. Soviel war klar.
Es mußte am frühen Morgen passiert sein, als er die Schweine mästete. Da hat Maria das Geweih von der Wand genommen und es
heimlich ins Pfarrhaus getragen. Priester Szubski, der in Biskupiec residierte, liebte Hirschgeweihe, und Maria wollte von
Priester Szubski geliebt werden. Als Zeichen seiner Liebe und als Dank für das Hirschgeweih machte er Maria zur zweitmächtigsten
Frau von Biskupiec.
Biskupiec ist eine 500-Seelen-Gemeinde an der Masurischen Seenplatte im Nordosten Polens. Dort verbrachte ich die Sommermonate,
und dort wurde meine |106| Großmutter zur Kirchenfrau ernannt, fortan zuständig für das Schmücken des Altarraums, für das Putzen der Dorfkirche, für
die Leichenwäsche und für die Mahlzeiten bei Hochzeiten. Nur dem Priester und seiner Haushälterin untertan, war sie eine respektable
Persönlichkeit.
Der ehemals mächtige Familienpatriarch Leon hingegen war zur Josephs-Figur degradiert worden und trank seit dem Diebstahl
seines Hirschgeweihs, das von der Jagdleidenschaft seines Vaters zeugte, regelmäßig und in rauhen Mengen Wodka.
Maria war sich keiner Schuld bewußt. Sie behauptete, sie handele im Auftrag Christi, und da dieser im Himmel ihre irdischen
Geschenke nicht in Empfang nehmen könne, bleibe ihr nichts anderes übrig, als seine Stellvertreter auf Erden zu beglücken.
Der erste Stellvertreter Gottes war der Papst, er hing im Schlafzimmer, eingefaßt in einen dicken Holzrahmen. Man sah darauf,
wie er mit seiner weißen Soutane in der Hohen Tatra kraxelte. Doch da Karol Wojtyła nicht mehr in Polen, sondern bereits in
Rom weilte, nahm Priester Szubski die Liebesgaben Marias entgegen.
Der Papst meiner Kindheit schwebte über den Dingen, er ordnete das Dorfleben und war eine mythenumrankte Figur. Ich erinnere
mich gut an die Sommermonate des Jahres 1981. Ich war sechs Jahre alt, bald würden meine Eltern mit mir nach Deutschland auswandern,
und wir verbrachten die letzten Ferien bei |107| meinen Großeltern. Tanten, Onkel und eine mir bis heute unüberschaubar große Anzahl an Cousins und Cousinen waren um den Wohnzimmertisch
versammelt.
Alle wußten, wir würden uns lange nicht wiedersehen. Würden wir uns überhaupt je wiedersehen? Das scharfe Zeug meines Großvaters
machte die Runde, und Maria wurde melancholisch. Sie sagte, daß Gott mit uns sei, egal, wohin wir führen. Und daß der Papst
ja auch fortgegangen sei und sie den Papst trotzdem liebe, obwohl er so weit weg sei. Und schließlich, daß sie uns auch dann
weiter lieben würde, sollten wir nicht mehr da sein.
Sie schaffte immer den Erzählbogen zum Papst. Und dann gab sie die Geschichte zum besten, die damals fast jede polnische Großmutter
in jedem polnischen Dorf erzählte. Es war die
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