Polt - die Klassiker in einem Band
Du solltest dich lieber um die Auffrischung meiner botanischen Kenntnisse bemühen.“
„Gern! Dieser einzeln stehende Baum da ist eine Wildkirsche, leicht zu erkennen an den Querstreifen der Rinde.“ Die Lehrerin nahm Simon Polt an der Hand. „Komm, wir nehmen einen anderen Weg zurück. In ein paar Minuten sind wir am Saugraben. Der führt geradewegs zur Brunndorfer Kellergasse.“
Entschlossen drang sie durch dichtes Gehölz vor. Dann blieb die Lehrerin so plötzlich stehen, daß der Gendarm fast gegen ihren Rücken prallte. „Simon, um Himmels willen!“
Sie schaute nach oben, Polt folgte ihrem Blick und sah ein totes Reh. Eine Drahtschlinge hatte sich tief in den Hals eingeschnitten, After und Maul waren von Fliegenschwärmen bedeckt.
Das Urteil im Keller
„Prost, Simon!“ Christian Wolfinger, jagdgrün gekleidet wie immer, hob sein Schnapsglas. „Das wird deinen Magen beruhigen. Das Reh hängt am Baum, sagst du? Wie ein Gehenkter am Galgen?“
Polt, der den Jäger am Abend zu Hause angetroffen hatte, nickte.
„Dann ist es geschnellt worden. Das ist ein alter Wilderer-Ausdruck. Ein junger Baum wird zu Boden gebogen und befestigt. Mit dem Stamm ist eine Drahtschlinge in Kopfhöhe des Wildes verbunden. Das Reh verfängt sich, versucht verzweifelt zu entkommen, der Baum schnellt hoch und das Tier ist sofort tot. Wundert mich, daß jemand solche Umstände macht.“
„Ging’s denn auch anders?“
„Klar. Die Drahtschlinge allein genügt. Das Reh stranguliert sich in seiner Panik. Hat für einen Wilddieb auch noch den Vorteil, daß es im Unterholz liegenbleibt und nicht so rasch entdeckt wird. Andererseits dauert der Todeskampf viel länger.“
„Also ein irgendwie humaner Wilderer, in unserem Fall, nicht wahr?“
„Ja. Und vermutlich auch noch einer, dem es nicht auf die Beute ankommt. Sonst hätte er das Reh nicht so lange hängen lassen.“
Polt trank sein Glas leer. „Was ist denn das für ein Teufelszeug?“
„Dirndlschnaps, ganz was Rares. Nur der alte Reisinger tut sich noch die Arbeit an. Wochenlang ist er im Spätsommer auf dem Grünberg unterwegs und sammelt die Dirndlfrüchte. Kornelkirschen heißen sie auch noch, glaub ich. An die 15 Kilo braucht man für nur einen Liter.“
„Na, vielleicht sollt ich das dem Herrn Hafner erzählen.“ Polt war aufgestanden. „Der mag ja offenbar Hochprozentiges. Ich seh ihn übrigens heute noch. Kleine Kostrunde im Höllenbauerkeller.“
Als sich Polt auf den Weg in die Kellergasse machte, war es dunkel geworden. Die Straße war fast menschenleer, nur vor dem Kirchenwirt standen ein paar junge Leute und redeten gelangweilt aufeinander ein. Polt kannte sie alle. Monika Brunngraber, noch keine elf Jahre alt, versteckte rasch ihre Zigarette, als sie den Gendarmen sah.
Die Stimmen verklangen, und Polt hörte nur noch das Summen des altmodischen Dynamos und das leise Ächzen des Fahrradsattels. Er überquerte den Wiesbach, die Lichter von Burgheim blieben zurück. Dunkelheit umfing ihn warm und dicht. In einiger Entfernung sah er die Laternen der Kellergasse als Kette von Lichtern auf dem Hang zur tschechischen Grenze hin. Hunderte von Preßhäusern standen dort dicht aneinandergereiht, und jedes hatte einen geräumigen Weinkeller unter sich. Polt freute sich darüber, daß einer dieser Keller auf ihn wartete, eine heimliche, freundlich erhellte Welt im Bauch der Erde.
Als er die Preßhäuser erreicht hatte, stieg Polt vom Fahrrad und schob es gemächlich bergan. Trotzdem holte er Sepp Räuschl ein. Dem alten Weinbauern war zwar kein Weg zu weit, aber jeder rasche Schritt zu viel. Nur einmal in seinem Leben war er gerannt, damals, als im Keller ein Weinschlauch platzte.
„Grüß Gott, Herr Räuschl! Auch zum Höllenbauern unterwegs?“
Der Wandersmann schaute Polt stumm ins Gesicht, nickte andeutungsweise, und ging ein paar Schritte neben ihm her. „Rennen Sie nur voran, Herr Polt“, sagte er dann, „mein Gott, diese jungen Leute, wissen nicht wohin mit ihrer Kraft. Und wenn’s dann einmal darauf ankommt, fehlt’s hinten und vorn.“
Am Ziel angelangt, sah Polt Ernst Höllenbauer, den Mesner Firmian Halbwidl und Heinz Hafner, zu dem offensichtlich ein geradezu provozierend schönes Cabriolet gehörte, beieinander stehen. Ein Mann, der schwarze Jeans und einen dünnen schwarzen Pullover trug, fotografierte das Auto. Polt kannte ihn.
Peter Paratschek war nach seiner Pensionierung von Wien nach Burgheim gezogen. Der Gendarm wunderte
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