Polt.
ausgeschlafen hatte. Polt nützte die Zeit für einen Besuch bei Norbert Sailer, dienstfrei an diesem Tag. Gemeinsam gingen sie die Namen aller Personen durch, mit denen Birgit Kontakt hatte. Familie gab es keine mehr. Lieblingsplätze im Wiesbachtal? Orte der Kindheit, die sie immer noch mochte? Na ja, einer ihrer Spielplätze vielleicht, das einschichtige Hexenhaus am Talrand unter dem Linsbühel ob die Gerda Habinger überhaupt noch lebte? Polt konnte sich jedenfalls nicht erinnern, von ihrem Tod gehört zu haben. Norbert Sailer wollte sich nicht mit ihr abgeben, sondern mit dem Auto die weitere Umgebung absuchen. Simon Polt stieg aufs Fahrrad und hoffte den Weg zum Linsbühel wieder zu finden. Sein letzter Besuch bei Frau Habinger lag viele Jahre zurück. Ein Dieb war nachts zuvor in ihr Haus eingedrungen und sie hatte ihn mit dem Stock dermaßen unbarmherzig verprügelt, dass er blutend zu Boden gegangen war. Polt wollte damals überprüfen, ob sie es mit der Notwehr vielleicht ein wenig übertrieben hatte, und konnte von Glück reden, dass nicht auch er die Schlagkraft ihrer Argumente zu spüren bekam.
Zu seinem Erstaunen fand er auf Anhieb sein Ziel, bog in einen grasigen Seitenweg ein und sah auch schon Frau Habingers Anwesen vor sich. Rebhänge bildeten am Rand des flachen Talbodens eine kleine Bucht, in der ein merkwürdiges Gebäude stand. Die seit jeher allein lebende Frau, bettelarm, aber reich an Ideen, hatte zuerst in einem jämmerlichen Holzverschlag gehaust. Nach und nach war es ihr gelungen, anderswo nicht benötigtes Baumaterial zu sammeln: zerbrochene Ziegel, Steine, Holz, aus Bauschutt geborgene Balken und Fensterrahmen. Außerdem hatte sie in der Nähe ein kleines Lehmvorkommen entdeckt. Gerda Habinger baute ihr Haus nicht, sie ließ es wachsen, bis es ihren Bedürfnissen entsprach. So nebenbei pflanzte sie noch Bäume und Büsche ringsum und war erst zufrieden, als das Grün beinah über dem niedrigen Dach zusammenschlug. Jetzt, so früh im Jahr, stand das Haus aber frei. Polt sah, dass die Fensterscheiben geputzt waren, und trat zuversichtlich näher. Er wollte gerade an die Tür klopfen, als sie geöffnet wurde. Eine Geruchswolke aus Kräutern, Suppe und Seife hüllte ihn ein und er schaute in ein kleines, pfiffiges Dörrzwetschgen-Gesicht. »Da schau her! Der Polt. Ich hab nichts angestellt, Herr Gendarm, geh zum Teufel.«
»Ich bin kein Gendarm. Schon lang nicht mehr.«
»Ah so? Aber neulich warst du doch bei mir.«
»Auch schon lang her.«
»Was ist lang? Nächstes Jahr wird ich neunzig. In dem Alter ist lang wie kurz und kurz wie lang. Was stehst denn da herum?«
Polt folgte ihr in den einzigen Raum des Hauses. Für Klo und Dusche, erinnerte er sich, gab es einen kleinen Anbau. Das Fließwasser lieferte eine Regentonne auf dem Dach. »Nicht bös sein, wenn ich mit der Tür in Haus fall. Ist vielleicht die Birgit Sailer bei Ihnen?«
»Letzten Sommer war sie da und hat mir geholfen mit dem Dach, komm ja nicht mehr hinauf. Und früher, als Kind, war sie mit ihren Freundinnen öfter bei der Hex, bei mir also. Na, dass sich die nichts Besseres gefunden hat als einen Polizisten? So eine Fesche, Lustige.«
»Der Norbert passt schon. Und wenn die Birgit nicht da ist, geh ich gleich wieder.«
»Was ist denn los mit ihr?«
»Nichts Besonderes.«
»Ja, freilich. Drum schaust ja drein wie ein Dackel mit Bauchweh. Ist sie ausg’rissen?«
»Wie kommen Sie darauf?«
»War immer so. Wegen jeder Kleinigkeit. Weit ist sie nie weg, damit sie nur ja schnell gefunden wird. Oft war sie bei mir, hat sich im Garten versteckt und sich tot gestellt, wenn sie die Mutter holen gekommen ist - damit die nur ja recht erschrickt. Die Birgit war mehr weg als da, sag ich dir. Jetzt also wieder einmal…«
»Ja. Aber diesmal geht’s leider um keine Kleinigkeit.«
»Dann sitz nicht bei mir herum, Simon. Tu was!« Sie wiegte nachdenklich den Kopf. »Was hat sie sich auch einen Polizisten nehmen müssen…«
Gegen elf stand Polt vor Rudi Weinwurms Behausung. Die Tür war unversperrt, er trat ein und sah den ehemaligen Kollegen halb angezogen im Bett liegen. Von der Ordnung, die Polt bei seinem letzten Besuch bewundert hatte, war nicht mehr viel zu sehen, und in der Luft lag der säuerliche Geruch von Erbrochenem. »He, Rudi! Aufwachen!« Keine Reaktion. Polt schüttelte ihn heftig. »Wird’s schon! Die Birgit ist weg, Rudi!«
»Die Birgit?« Weinwurm öffnete die Augen, richtete sich auf und stöhnte.
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