PolyPlay
Er holte eine zweite Flasche Margonwasser aus dem Kühlschrank.
Das Material, aus dem die Schachtel gemacht war, faszinierte ihn. Es fühlt sich wie Samt an, dachte er. Wie sehr kurz geschorenes, feines Fell. Aber in Wirklichkeit hatte er keine Vergleiche dafür. Er strich darüber hin und freute sich an dem seltsamen, neuartigen Gefühl. Daraus sollten sie mal Klamotten machen, dachte er, nicht aus dem blöden Malimo.
Als er den Gegenstand aus der Schachtel herausholte, stellte er zu seiner Verblüffung fest, dass die drei Kerben goldfarben leuchteten. Er sah genauer hin: Wenn das Leuchtdioden waren, dann hatte Kramer diesen Typ noch nie gesehen. Nein, nein, das Licht kam aus dem Inneren des Gegenstands. Kramer bekam Bedenken. Was mochte die Ursache für das Leuchten sein? Während seiner Zeit auf der Polizeihochschule war ihm natürlich auch der Umgang mit Leuchtstoffen beigebracht worden. Er konnte sich vage daran erinnern, dass Leuchtstoffe häufig radioaktiv waren. Verstrahlte ihn das Ding gerade?
Das Licht wurde sprunghaft intensiver. Weil es ihn blendete und weil er es wirklich mit der Angst bekam, legte er das Ding auf den Küchentisch, neben die Schachtel. Vielleicht war es aber in der Schachtel besser aufgehoben. Er schloss den Deckel, und sofort begann die ganze Schachtel zu leuchten, blaugolden. Kramer wusste nicht, was er tun sollte. Alles aus dem Fenster werfen? Die Feuerwehr rufen? Andererseits war er noch immer neugierig. Er wollte wissen, wie das Licht aus der Schachtel ohne die Küchenbeleuchtung aussah. Als er die Hängelampe über dem Tisch ausgeschaltet hatte, war das Licht aus der Schachtel schon stark genug, um Schatten zu werfen. Und mit jeder Sekunde wurde es stärker. Sprach- und fassungslos sah Kramer zu, wie das Leuchten schließlich die ganze Küche erfüllte: ein kaltes Feuer, durch das blaue und goldene Funken tanzten. Alles war eingehüllt in dieses Licht: Decken und Wände, die Küchenmöbel, Kramer selbst. Jetzt gab es keine Schatten mehr. Trotz seiner Angst ging Kramer mit ausgestreckten Händen auf die Schachtel zu. Als er die Hand darauflegte, strahlte sie in schmalen Bahnen zwischen seinen Fingern hervor und warf das Abbild seiner Hand vielfach vergrößert an die Decke.
Dann, mit einem Schlag: Dunkelheit. Nichts mehr. Kramer stand in der finsteren Küche, die Finger um die Schachtel gelegt, und wusste immer noch nicht, wie ihm geschah. Es dauerte eine Weile, bis er bemerkte, dass das Telefon klingelte. Langsam ging er rückwärts aus der Küche. Auf dem Weg zum Telefon warf er mehrere unsichere Blicke zurück zur Küchentür. Er betrachtete einige Sekunden lang stumpf den Hörer, bevor er abhob.
»Hallo?«, sagte jemand.
»Anette?«
»Ist was, Rüdiger? Du klingst so komisch?«
Nein dachte er, nichts ist. Ich habe nur gerade die Feen tanzen sehen. In unserer Küche.
»Nein«, sagte er. »Nichts. Ich bin nur müde. Ich bin vor dem Fernseher eingeschlafen.«
»Ach so«, sagte Anette. »Ich wollte dir nur sagen, dass hier das absolute Chaos herrscht. Es hat einen Computerausfall gegeben, und Speidel hat uns allen eine Sonderschicht verordnet, damit das wieder in Ordnung kommt. Nicht auf mich warten.«
»Gut.«
»Wirklich alles in Ordnung? Du klingst so komisch!«
»Ja. Alles in Ordnung. War ein langer Tag heute. Muss ich dir mal erzählen.«
»Ja. Aber nicht jetzt. Die Arbeit ruft.«
»Gut. Wir sehen uns morgen.«
»Bis morgen«, sagte Anette und legte auf.
Kramer hörte sich eine Weile das Freizeichen an. Es klang so beruhigend normal. Dann ging er in die Küche. Die Schachtel lag völlig harmlos auf dem Tisch. Wurde er verrückt? Er musste mit jemandem reden. Aber nicht mit Anette.
Pasulke hatte sein Bier noch nicht angerührt. Sie saßen im Bierkönig, der fürchterlichsten Kneipe Berlins. Der Laden war die ostdeutsche Nachahmung einer Kneipe von Westdeutschen, die seinerzeit eine bayrische Beiz mit Biergarten in Mallorca nachgeahmt hatte, verfeinert durch Reminiszenzen an ehemalige nordamerikanische Diners, wie den »echten Barspiegel« des Hard Rock-Cafés aus Los Angeles. Ein surrealer Alptraum. Pasulke hatte diese Kneipe aufgetan. Er war mit Kramer immer dann dorthin gegangen, wenn es etwas wirklich Ernsthaftes zu bereden gab. Etwas Wichtiges, von dem er gleichwohl wollte, dass es schnell erledigt war. Sie hätten auch in der Inspektion aufs Klo gehen können, aber dort gab es kein Köstritzer.
Diesmal hatte Kramer Pasulke in den Bierkönig gebeten, um
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