Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
PolyPlay

PolyPlay

Titel: PolyPlay Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Hammerschmitt
Vom Netzwerk:
er immer um die Uhr herum, wie ein Tibeter um seine Gebetsmühle, eine Viertelstunde lang, bis er schließlich Anette beinahe anrempelte, die er, von seiner Kreiswanderung völlig absorbiert, fast übersehen hätte. Ihre erste Frage war gewesen: »Was machst du da?« Und ihre erste Auskunft: »Ich hab mich ein wenig verspätet.« Seitdem, dachte Kramer bitter, sind die Verspätungen immer deutlicher ausgefallen.
    Diesmal schien der Trick nicht zu funktionieren. Es kamen zwar ein paar Autos vorbei, eines passierte ihn sogar in Schritttempo, aber niemand nahm wirklich Kontakt mit ihm auf. Kein Ruderer, kein Fußgänger, niemand. Nach zwanzig Minuten hatte Kramer genug. Er beschloss, zu seinem Auto zurückzukehren, die Postkarte, den Eintrag in dem Buch und die Brücke zu vergessen und diesen Abend endgültig abzuhaken.
    Vor seiner letzten Kanalüberquerung (er war wieder auf dem Weg nach Neukölln) kam er zum x-ten Mal an einem Verkehrsschild vorbei, das Fahrzeugen mit mehr als 7,5 Tonnen Gewicht den Weg über diese Brücke verbot. Irgendjemand hatte das Schild als Zielscheibe benutzt. Die Einschüsse deuteten auf ein Kleinkalibergewehr hin. Am Fuß des Schildmastes lag eine Schachtel, die anscheinend achtlos weggeworfen worden war. Bis jetzt war sie ihm nicht aufgefallen. Kramer ging in die Hocke, weil sie eine interessante Farbe hatte: Das Blau leuchtete in der Dämmerung. Er hob die Schachtel auf und hätte sie beinahe wieder fallen lassen, weil sie sich so seltsam anfühlte. Sie lag wunderbar samtig und schwer in seiner Hand, eine eigenartige Mischung aus metallischem Gewicht und organischer Sanftheit.
    Kramer öffnete sie. Darin lag ein Gegenstand, wie er ihn noch nie gesehen hatte: Das Ding hatte in etwa die Größe und Form eines Daumens und glänzte silbern-anthrazitfarben. Er nahm das Fundstück aus der Schachtel heraus. Für seine Größe war es überraschend schwer. Dort, wo bei einem Daumen der Fingernagel gewesen wäre, war ein Zeichen oder eine Markierung eingeprägt: drei Kerben, spitz zulaufend, wie sehr feine und schmale Klingen, wie ein Keilschrift-Zeichen für die Zahl Drei. Kramer hatte dieses Zeichen schon einmal gesehen, aber er konnte sich nicht erinnern, wo. Abgesehen von den Kerben war der Gegenstand unmarkiert. Fabrikat, Hersteller, Seriennummer: nichts von alledem. Wozu diente dieses Ding? Kramer hatte keinen blassen Schimmer. Aber er wusste intuitiv, dass es aus derselben Quelle stammte wie der seltsame Rechner auf dem Schreibtisch von Michael Abusch: Es strahlte dieselbe Aura der Hypermodernität aus, dieselbe quasiorganische Qualität, dieselbe Kompromisslosigkeit der Gestaltung.
    Kramer legte den Gegenstand in die Schachtel zurück. Er wog sie in seiner Hand. Sein Ausflug zur Späthbrücke war nicht umsonst gewesen. Aber wie weiter? War das eine Falle? Wollte die Stasi ihn in irgendeinen Mist hineinziehen, der mit Schmuggelaktivitäten zu tun hatte? Aber warum? Er wusste, dass die Stasi zu völlig absurden Konstruktionen neigte, aber das hier schmeckte anders. Es wirkte weitaus bizarrer als die Majorin Schindler und ihre Obsessionen. Fest stand nur, dass irgendjemand ein Spiel mit ihm spielen wollte. Er hockte mit der blauen Schachtel in der Hand vor dem Verkehrsschild und hatte gute Lust zum Mitspielen. Genau, Uwe, dachte er. Ich will wissen, was hier vor sich geht. Ich will es verdammt noch mal wissen.
     
    Auf dem ganzen Weg nach Hause war er gut gelaunt. Er fuhr durch den milden Frühlingsabend. An einer Ampel lächelte ihn ein hübsches Mädchen an. Die Schachtel lag auf dem Beifahrersitz, und er streichelte sie ab und zu, weil sie sich so wunderbar anfühlte. Er nahm sich vor, Anette nichts von seinem Ausflug zu erzählen, allein schon wegen ihrer ständigen Zuspätkommerei. Außerdem wollte er sie nicht mit Angelegenheiten belästigen, die sie nichts angingen. Das war ein ungeschriebenes Gesetz zwischen ihnen: Er schwieg über laufende Ermittlungen, sie schwieg über ihre Arbeit bei der Wismut.
     
    Als er die Tür seiner Wohnung hinter sich zugeschlagen hatte, wusste er sofort, dass sie noch gar nicht da war: Ihr Haken an der Garderobe war leer. 22:12 Uhr. So spät war es schon lange nicht mehr geworden. Aber Kramer wollte sich nicht ärgern. Auch gut, dachte er, dann kann ich noch einmal einen Blick auf die Schachtel werfen. Er legte sie auf den Küchentisch. Weil er Durst hatte, goss er sich ein Glas Mineralwasser ein, trank es auf einen Zug leer und schenkte noch einmal nach.

Weitere Kostenlose Bücher