PolyPlay
ihn schwer enttäuscht. Von ihm hätte er dieses Desinteresse zuletzt erwartet, diese achselzuckende Gleichgültigkeit. Kramer fühlte vor lauter Frustration Tränen aufsteigen und kämpfte sie nur mit Mühe zurück. Selbstmitleid, dachte er, schlimmer Fall. Nüchtern betrachtet hatte Pasulke genauso Recht wie Lobedanz. Wenn er Schumacher und Natschinsky, die den Abusch-Fall wahrscheinlich schon halb vergessen hatten, nach ihrer Meinung gefragt hätte, wäre wahrscheinlich dasselbe herausgekommen: »Vergiss es.« Ach ja, Schumacher hätte wahrscheinlich noch ein leises und bedauerndes »Operation Neescherfett« fallen lassen. Kramer musste fast lachen, als er sich das vorstellte. Lachen und Weinen nah beieinander, dachte er. Was er brauchte, war ein Plan.
Er beschloss, bei dem Buch anzusetzen. Zwar vermutete er, dass von der gespenstischen Bibliothekarin im Präsidium kaum zu erfahren sein würde, wer die Notiz in das Buch hineingeschrieben haben konnte. Außerdem hatte er echte Angst davor, ihr dieses Buch zu spät zurückzugeben. Aber er wollte ihr immerhin die Frage stellen, wer außer ihr noch Zugang zum Buchbestand hatte. Sicherheitshalber kopierte er S. 29, zusammen mit dem Umschlag und den bibliographischen Daten. Er nahm sich dabei vor, das Gekritzel auf der Postkarte und in dem Buch von DORA mit gespeicherten Schriftproben vergleichen zu lassen. Vielleicht war der Verfasser ja schon anderweitig polizeilich in Erscheinung getreten. Außerdem nahm er eine Handschriftprobe von sich selber mit, um der Bibliothekarin beweisen zu können, dass nicht er die Randnotiz verfasst hatte.
Auf dem Präsidium erlebte er eine handfeste Überraschung. Die Tür zur Bibliothek war verschlossen. Das Schild neben der Tür, das noch vor zwei Wochen die Öffnungszeiten und den Namen der Bibliothekarin verzeichnet hatte, war abgeschraubt worden. Man sah noch die helle, viereckige Stelle und die notdürftig zugespachtelten Bohrlöcher der Schrauben. In dem Moment, als Kramer verdutzt vor der verschlossenen Tür stand, kam eine hübsche junge Büroangestellte die Treppe herunter und lief lächelnd an ihm vorbei.
»Entschuldigung«, rief er ihr hinterher. »Hallo!«
Die Frau drehte sich um. Sie war wirklich außergewöhnlich hübsch, und Kramer hätte gern ein wenig mit ihr geflirtet, aber dazu war jetzt die Zeit nicht.
»Können Sie mir sagen, was mit der Bibliothek passiert ist?«
Die Frau runzelte die Stirn. Kramer bedauerte fast, der Anlass dafür zu sein.
»Bibliothek? Welche Bibliothek?«
»Na, die Bibliothek hier«, sagte Kramer und wies mit dem Daumen auf die verschlossene Tür. »Vor zwei Wochen war hier noch die Präsidiumsbibliothek. Jetzt sind die Schotten anscheinend dicht. Ich möchte gern ein Buch zurückgeben, das ich mir ausgeliehen habe, sehen Sie!« Er hielt das Buch über die Finanzdelikte hoch.
»Ich bin … neu hier«, sagte die schöne Unbekannte. »Von einer Bibliothek weiß ich nichts.«
»Ach?«, fragte Kramer. »Schade. Dann muss ich mich woanders erkundigen.«
»Ja«, sagte die Frau fröhlich, offenbar erleichtert darüber, dass das Problem gelöst war. »Das müssen Sie wohl.« Sie lächelte wieder.
»Auf Wiedersehen«, sagte Kramer.
»Auf Wiedersehen«, sagte sie freundlich und wandte sich zum Gehen.
Während sie davonstöckelte, fragte er sich, ob er sie nicht zu einem Kaffee hätte einladen sollen. Er fragte sich allerdings auch, wie neu man eigentlich sein musste, um von der Existenz einer Hausbibliothek nichts zu wissen. Andererseits war das beim Zustand dieser Hausbibliothek auch kein Wunder. Wahrscheinlich war sie geschlossen worden, weil sich niemand mehr an sie erinnerte.
Sollte er tatsächlich nach dem Verbleib der Bibliothek und der Bibliothekarin forschen? Er entschied sich dagegen. Die Sache erinnerte ihn sehr an die alte DDR von vor zehn und zwanzig Jahren, wo so was dauernd vorgekommen war: Planstellen, die nicht mehr existierten, geschlossene Behörden, die gleichwohl noch geharnischte Erinnerungsschreiben verschickten, und anderes mehr. Es konnte sein, dass er im ganzen Polizeipräsidium von Großberlin niemanden finden würde, der ihm sagen konnte, was aus der Bibliothek geworden war, und er wollte keine Zeit verschwenden, um am Ende mit nichts in der Hand dazustehen.
Manches ändert sich nie, dachte er kopfschüttelnd, während er die Treppen zum Parkplatz hinunterlief.
Der Schriftvergleich brachte auch nichts. Seine R-610 spuckte zwar ein Dutzend Treffer aus, aber
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