PolyPlay
die Identitätswahrscheinlichkeit lag immer unter dreißig Prozent, und das reichte einfach nicht aus.
Nach dieser Pleite beschloss Kramer, den ganzen NATA-Komplex beiseite zu legen. Er wollte sich nicht mehr mit der Frage beschäftigen, wie die seltsame Postkarte, das Buch und das Fundstück zusammenhingen, weil er wusste, dass er dieses Rätsel ohne zusätzliche Informationen nicht lösen konnte. Es war ja ohnehin nicht sicher, dass der NATA-Komplex irgendetwas mit dem Tod von Michael Abusch zu tun hatte, auch wenn er nicht glauben konnte, dass die Kausalkette Buch – Postkarte – Späthbrücke – NATA reiner Zufall war. Vielleicht war er tatsächlich zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gewesen, und dieses Spiel galt nicht wirklich ihm.
Unangenehmerweise verlor er aber mit dem NATA-Komplex auch eine der wenigen Spuren, die er überhaupt hatte. Die Bedingungen waren ohnehin schwierig. Offiziell durfte er in dem Fall gar nicht mehr ermitteln, also durfte Lobedanz nichts davon erfahren, dass er es trotzdem tat. Pasulke hätte er bis vor kurzem gerne mit einbezogen, aber Pasulke war nicht interessiert. Mit Unbehagen bemerkte Kramer, dass er seinem Freund, mit dem er seit fast zwanzig Jahren zusammenarbeitete, nicht mehr hundertprozentig traute. Natschinsky und Schumacher kamen ohnehin nicht als Verbündete in Frage. Ansonsten war die Arbeitslast die gleiche wie immer: Kramer musste sich mit Staatsanwälten herumschlagen, Zeugen verhören und Berichte schreiben. Aber all das interessierte ihn nicht. In Gedanken war er immer bei der Leiche in dem Jugendclub. Und gerade damit war er allein. Nach dem NATA-Debakel blieb ihm eigentlich nicht viel übrig, als zum Ausgangspunkt des Falles zurückzukehren: zu Michael Abuschs seltsamer Vorliebe für ein veraltetes Computerspiel. Er konnte im Grunde nur zwei Dinge tun: Polyplay noch besser kennen lernen, um vielleicht einen Schlüssel in dem Spiel selbst zu finden. Und Ausschau nach den ehemaligen Freunden von Michael halten. Ganz kleine Brötchen.
Was Polyplay anging, rechnete er sich keine großen Chancen aus. Michael Abusch war ein kluger Junge mit ziemlich viel Zeit gewesen. Er hatte Polyplay seit Jahren gespielt. Was konnte ein alter Sack wie er in dieser Hinsicht erreichen? Und trotzdem: Vielleicht ging es auch nur um Zufall und nicht um Methode. Vielleicht würde ihm eine zufällige Tastenkombination, eine bestimmte Spielreihenfolge oder -dauer, eine bestimmte Punktzahl, ein bestimmtes Muster auf dem Bildschirm oder irgendeine andere Kombination von Umständen eine Tür öffnen, die Michael in Jahren angestrengter Suche nicht gefunden hatte. Die Möglichkeit war gering, aber sie war vorhanden. Natürlich setzte das voraus, dass Michael wirklich etwas gesucht hatte und nicht einfach nur polyplaysüchtig gewesen war. Kramer akzeptierte diese Voraussetzung. Sein Kriminalisteninstinkt sagte ihm, dass ein Stück Wahrheit in der Vermutung steckte, Michael Abusch sei einer Spur gefolgt.
Kramer spielte jeden Tag mehrere Stunden lang Polyplay, auch wenn er das Spiel dabei hassen lernte, abends mit geröteten Augen als Letzter die Inspektion verließ und auf dem Weg nach Hause kleine leuchtende Männchen vor seinen Augen herumtanzen sah.
Das »soziale Umfeld Michael Abuschs« hatten Natschinsky und Schumacher schon einmal abgeklopft, aber die Berichte, die sie darüber verfasst hatten, waren unbrauchbar. Kramer entschied: Er würde noch einmal speziell das computerisierte Umfeld seines Opfers beackern müssen. Die Szene, in der sich Michael Abusch früher herumgetrieben hatte, war nicht schwer zu finden. Wo immer öffentliche Spielautomaten aufgestellt waren, in Jugendclubs, Diskotheken, den Hinterzimmern von Restaurants, traf Kramer sie an: die Fünfzehn- und Sechzehnjährigen mit den Taschen voller Kleingeld. Schwarz war die Farbe der Saison. Manche der Jungen (Mädchen gab es unter der Spielern so gut wie keine) trugen T-Shirts mit den Namen ihrer Lieblingsbands. Die Haare trug man kurz, getrunken und geraucht wurde erstaunlich wenig. Das galt anscheinend nicht als »trocken«. »Trocken« oder »groß« waren die aktuellen Sommerhits unter den Modewörtern. Alles Gute musste »trocken« oder »groß« sein, der Rest war einfach nur »schlimm«.
Kramer versuchte sich an die Mode seiner Jugend zu erinnern. Zu seiner Zeit hatte es Fleischerhemden gegeben und Römerlatschen. Trampen war in gewesen und »Faustan«. Spätestens bei seinem Eintritt in die Polizeihochschule
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