Pompeji
Wasserbaumeister!«
Er befreite seine Hand und lief hinter dem Sklaven her.
Hora nona
[15.32 Uhr]
»Die Auswirkungen der plötzlichen Freisetzung gewaltiger Magmamassen können die Geometrie der Wasseradern verändern, die flache Kammer destabilisieren und einen strukturellen Zusammenbruch bewirken. Eine derartige Situation verstärkt häufig die Heftigkeit eines Ausbruchs, und es kommt zu einem Kontakt zwischen phreatischen Flüssigkeiten und Magma ebenso wie zu einer explosiven Dekompression des hydrothermalen Systems in der flachen Kammer.«
Encyclopedia of Volcanoes
Es kostete Attilius knapp zwei Stunden schnellen Reitens, um Misenum zu erreichen. Die Straße wand sich an der Küste entlang, manchmal direkt am Ufer, gelegentlich aber auch höher landeinwärts, vorbei an den riesigen Villen der römischen Elite. Überall ritt er an kleinen Gruppen von Leuten vorbei, die sich am Straßenrand versammelt hatten, um das ferne Spektakel zu beobachten. Die meiste Zeit wandte er dem Berg den Rücken zu, aber als er das Nordende des Golfs umrundete und mit dem Abstieg nach Neapolis begann, konnte er ihn wieder sehen, zu seiner Linken – jetzt ein Anblick von außerordentlicher Schönheit. Ein zarter Schleier aus weißem Nebel umhüllte die zentrale Säule und stieg in Form eines perfekten, durchscheinenden Zylinders Meile um Meile höher empor, bis an die Unterkante der pilzförmigen Wolke, die auf den Golf stürzte.
In Neapolis, selbst in den besten Zeiten ein verschlafener Ort, war keinerlei Panik zu spüren. Er hatte die erschöpften, schwer beladenen Flüchtlinge weit hinter sich gelassen, und bisher war die Nachricht von der Katastrophe in Pompeji noch nicht bis zu der Stadt vorgedrungen. Die der See zugewandten weißen Tempel und Theater im griechischen Stil funkelten in der Nachmittagssonne. Besucher ergingen sich in den Gärten. Auf den Hügeln hinter der Stadt konnte er die aus roten Ziegeln erbaute Arkade der Aqua Augusta sehen, die hier oberirdisch verlief. Er fragte sich, ob das Wasser bereits wieder floss, wagte es aber nicht, anzuhalten und sich zu erkundigen. Außerdem war es ihm gleichgültig. Das, was er bisher für die wichtigste Sache der Welt gehalten hatte, war zu einem Nichts geschrumpft. Was waren Exomnius und Corax jetzt außer Staub? Nicht einmal Staub; kaum noch eine Erinnerung. Er fragte sich, was aus den anderen Männern geworden war. Aber das Bild, das er einfach nicht abschütteln konnte, war das von Corelia – die Art, wie sie ihr Haar zurückgeworfen hatte, als sie auf ihr Pferd stieg, und die Art, wie sie in der Ferne immer kleiner geworden war, dem Pfad folgend, auf den er sie geschickt hatte – dem Los entgegen, das er, nicht das Schicksal, ihr bestimmte.
Er durchquerte Neapolis und danach wieder offenes Gelände und gelangte in den gewaltigen Straßentunnel, den Agrippa durch das Vorgebirge von Pausilypon hatte bohren lassen – und in dem, wie Seneca bemerkt hatte, die Fackeln der Straßensklaven die Dunkelheit weniger durchdrangen als offenkundig machten –, vorbei an den riesigen Getreidesilos im Hafen von Puteoli – ein weiteres von Agrippas Projekten –, vorbei an den Ausläufern von Cumae – wo, wie es hieß, die Sibylle in einer hängenden Flasche hockte und den Tod herbeisehnte –, vorbei an den Austernbänken des Averner Sees, vorbei an den großen, terrassenförmig angelegten Bädern von Baiae, vorbei an den Betrunkenen am Strand und den Andenkenläden mit ihren bunt bemalten Glaswaren, an Kindern, die Drachen steigen ließen, und Fischern, die am Ufer ihre Netze flickten, sowie Männern, die im Schatten der Oleanderbäume würfelten, vorbei an einer Centurie Seesoldaten, die in voller Ausrüstung im Eilschritt zum Kriegshafen hinuntermarschierten; vorbei am ganzen wimmelnden Leben der Supermacht Rom, während an der gegenüberliegenden Seite des Golfs der Vesuv einen weiteren rollenden Donnerschlag von sich gab, woraufhin sich die Farbe der Gesteinsfontäne von Grau in Schwarz verwandelte und sie sogar noch höher emporschoss.
Plinius' größte Besorgnis war, dass alles vorbei sein könnte, bevor er es erreichte. Immer wieder watschelte er aus seiner Bibliothek heraus, um die Bewegung der Säule zu überprüfen, und jedes Mal war er erleichtert. Sie schien sogar noch zu wachsen. Eine genaue Schätzung ihrer Höhe war unmöglich. Posidonius war der Ansicht, dass Nebel, Winde und Wolken sich nicht höher als fünf Meilen über die Erde
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