Pompeji
der Augusta, um Aufmerksamkeit zu erregen. »War jemand heute Morgen in Pompeji?« Aber niemand achtete auf ihn. Die Menschen waren durstig nach der Reise – und, dachte er, das war nur natürlich, wenn sie aus Neapolis kamen, wo das Wasser bereits am Mittag versiegt war –, und in ihrer Eile, den Brunnen zu erreichen, strömten sie an ihm vorbei, alle außer einem, einem älteren Priester mit dem spitzen Hut und dem Krummstab eines Auguren, der langsam ging und dabei den Himmel betrachtete.
»Ich war heute Nachmittag in Neapolis«, sagte er, als Attilius ihn anhielt, »aber am Morgen war ich in Pompeji. Warum? Gibt es etwas, wobei ich dir helfen kann, mein Sohn?« In seinen milchigen Augen erschien ein verschlagener Ausdruck, und er senkte die Stimme. »Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Ich bin geübt in der Deutung sämtlicher Phänomene – Blitze, Eingeweide, Vogelschau, unnatürliche Manifestationen. Meine Honorare sind bescheiden.«
»Darf ich fragen, heiliger Vater, wann du Pompeji verlassen hast?«
»Beim ersten Tageslicht.«
»Und waren die Springbrunnen in Betrieb? Gab es Wasser?«
Von der Antwort hing so viel ab, dass Attilius fast Angst hatte, sie zu hören.
»Ja, es gab Wasser.« Der Augur runzelte die Stirn und hob seinen Stab in das schwindende Licht. »Aber als ich in Neapolis ankam, waren die Straßen trocken, und in den Bädern habe ich Schwefel gerochen. Deshalb beschloss ich, wieder auf die Fähre zu gehen und hierher zu kommen.« Er schaute erneut zum Himmel empor und suchte ihn nach Vögeln ab. »Schwefel ist ein furchtbares Omen.«
»Das stimmt«, pflichtete Attilius ihm bei. »Aber bist du sicher? Bist du sicher, dass das Wasser noch lief?«
»Ja, mein Sohn. Ich bin sicher.«
Um den Brunnen herum geriet die Menge in Bewegung, und beide Männer drehten sich um. Anfangs schien es nichts von Belang zu sein, nur etwas Gedränge und Geschiebe, aber kurz darauf hagelte es Faustschläge. Die Menge schien sich zusammenzuziehen und sich zu verdichten, und aus dem Zentrum des Gedränges segelte ein großer Tonkrug durch die Luft, drehte sich langsam und landete auf dem Kai, wo er zerbrach. Eine Frau kreischte. Am Rande der Menge kam ein Mann in einer griechischen Tunika zum Vorschein, der einen gefüllten Wasserschlauch fest an seine Brust drückte und aus einer klaffenden Schläfenwunde blutete. Er stolperte, kam wieder hoch, stolperte weiter und verschwand in einer Gasse.
Und so fängt es an, dachte der Wasserbaumeister. Zuerst dieser Brunnen, dann all die anderen und das große Becken auf dem Forum. Dann die öffentlichen Bäder, die Zapfstellen im Ausbildungslager und in den großen Villen – und aus den leeren Rohren kommt nichts als das Knirschen von trockenem Blei und das Zischen ausströmender Luft.
Die ferne Wasserorgel war mitten in einem Ton stecken geblieben und erstarb mit einem lang gezogenen Stöhnen.
Jemand schrie, der Mistkerl aus Neapolis habe sich vorgedrängt und das letzte Wasser gestohlen, und wie ein riesiges Untier mit einem einzigen Gehirn machte die Menge kehrt, ergoss sich in die schmale Gasse und nahm die Verfolgung auf. Dann plötzlich, ebenso schnell, wie er begonnen hatte, war der Aufruhr vorüber, und nur ein paar zerbrochene und im Stich gelassene Krüge blieben zurück. Zwei Frauen hockten dicht neben dem Rand des versiegten Brunnens im Staub und hielten sich schützend die Hände über den Kopf.
Vespera
[20.07 Uhr]
»Erdbeben können gehäuft in Gebieten auftreten, die unter starker Spannung stehen, zum Beispiel in der Nähe von Verwerfungen, sowie in der unmittelbaren Nachbarschaft von Magma wenn es zu Druckveränderungen kommt.«
Haraldur Sigurdsson (Hrsg.)
Encyclopedia of Volcanoes
Die Amtsresidenz des Befehlshabers der Westflotte stand auf einer Anhöhe oberhalb des Hafens, und als Attilius sie erreicht hatte und auf die Terrasse geführt wurde, war die Dämmerung hereingebrochen. Überall am Golf wurden in den Strandvillen Fackeln, Öllampen und Kohlenpfannen angezündet, bis allmählich ein locker gesponnener Faden aus gelbem Licht zum Vorschein kam, der mit seinem Flackern Meile um Meile die Kurve des Golfs nachzeichnete, um schließlich im purpurnen Dunst in Richtung Capri zu verschwinden.
Ein Centurio in voller Uniform, mit Brustpanzer, Helm und Schwert, eilte davon, als der Wasserbaumeister eintraf; von einem Steintisch unter einer Pergola wurden gerade die Überreste einer großen Mahlzeit abgeräumt. Zuerst sah
Weitere Kostenlose Bücher