Pompeji
Knabe.« Ohne den Blick von Attilius' Gesicht abzuwenden, löste Corax den Schlüssel von dem Ring an seinem Gürtel. »Ich werde den Befehlshaber aufsuchen. Ich werde ihm berichten, was hier vorgeht. Und dann werden wir sehen, wer sich wofür rechtfertigen muss.«
Attilius ergriff den Schlüssel und schob sich seitwärts an ihm vorbei auf den Platz hinaus. Dem Sklaven, der am nächsten stand, rief er zu: »Schließ die Tore hinter mir ab, Polites. Niemand darf ohne meine Erlaubnis hereingelassen werden.«
»Ja, Aquarius.«
Auf der Straße drängte sich immer noch eine Schar Schaulustiger, aber sie machten eine Gasse für ihn frei. Ohne auf ihre Fragen zu reagieren, bog er nach links und dann ein zweites Mal nach links ab und stieg eine steile Treppe hinunter. Noch immer war die Wasserorgel in der Ferne zu hören. Zwischen den Mauern waren Leinen gespannt, Wäsche hing über seinem Kopf. Leute drehten sich um und starrten ihn an, als er sie aus dem Weg schob. Eine Prostituierte in safrangelbem Gewand, höchstens zehn Jahre alt, ergriff seinen Arm und wollte nicht loslassen, bevor er in seinen Beutel gegriffen und ihr ein paar Kupfermünzen gegeben hatte. Er sah, wie sie durch die Menge schoss und das Geld einem fetten Kappadokier aushändigte – offensichtlich ihrem Besitzer –, und verfluchte seine Torheit, während er weitereilte.
Das Gebäude, in dem sich das Schleusentor befand, war ein kleiner Würfel aus Ziegelsteinen, kaum mannshoch. Eine Statue der Wassernymphe Egena stand in einer Nische neben der Tür. Zu ihren Füßen lagen ein paar verwelkte Blumen und etliche verschimmelte Klumpen Brot und Obst – Opfergaben von schwangeren Frauen, die glaubten, dass Egena, die Gemahlin des Friedensfürsten Numa, zu gegebener Zeit ihre Niederkunft erleichtern würde. Noch so ein sinnloser Aberglaube. Und eine Verschwendung von Lebensmitteln.
Er drehte den Schlüssel im Schloss und zerrte wütend an der schweren Holztür.
Er befand sich jetzt auf gleicher Höhe mit dem Grund der Piscina mirabilis. Wasser aus dem Reservoir floss unter Druck durch ein Bronzegitter in einem Tunnel in der Mauer, ergoss sich strudelnd in dem offenen Kanal zu seinen Füßen und wurde dann in drei Rohre geleitet, die sich auffächerten, unter den Steinplatten hinter ihm verschwanden und das Wasser in den Hafen und die Stadt Misenum leiteten. Der Fluss wurde mithilfe eines Schleusentors reguliert, das bündig in die Mauer eingelassen war und mit einem Eisenrad bedient wurde. Das Rad, das kaum jemals benutzt wurde, war eingerostet. Er musste mit dem Handballen gegen den Holzgriff schlagen, um es zu lockern; erst als er seine volle Kraft einsetzte, begann es sich zu bewegen. So schnell er konnte, drehte er den Griff. Das Tor senkte sich, rasselte wie ein Fallgitter und erstickte langsam den Fluss des Wassers, bis er schließlich völlig versiegte und es nur noch nach feuchtem Staub roch.
Bloß eine Pfütze blieb in dem steinernen Kanal zurück, die in der Hitze so schnell verdunstete, dass er sehen konnte, wie sie schrumpfte. Er bückte sich, steckte einen Finger in die nasse Stelle und berührte dann mit ihm seine Zunge. Kein Schwefelgeschmack.
Jetzt habe ich es getan, dachte er. Die Flotte ihres Wassers beraubt, in einer Dürre, ohne Genehmigung, drei Tage nach Antritt meines Amtes. Männer waren schon geringerer Vergehen wegen degradiert und in die Tretmühlen geschickt worden, und der Gedanke schoss ihm durch den Kopf, dass er ein Narr gewesen war, Corax als Ersten mit dem Befehlshaber sprechen zu lassen. Es würde bestimmt eine Untersuchung geben. Gerade jetzt würde der Aufseher dafür sorgen, wem die Schuld gegeben wurde.
Nachdem er die Tür zur Schleusenkammer verschlossen hatte, trat er ins Freie und schaute sich auf der belebten Straße um. Niemand achtete auf ihn. Keiner von den Menschen hier wusste, was ihnen bevorstand. Er hatte das Gefühl, im Besitz eines Geheimnisses vom großer Tragweite zu sein, und dieses Wissen ließ ihn auf der Hut sein. Während er durch eine enge Gasse zum Hafen hinuntereilte, hielt er sich dicht an den Mauern und schlug die Augen nieder, um den Blicken der Leute nicht zu begegnen.
Die Villa des Befehlshabers lag am entgegengesetzten Ende von Misenum, und um sie zu erreichen, musste der Wasserbaumeister eine Strecke von gut einer halben Meile zurücklegen. Zumeist in gemächlichem Tempo, aber gelegentlich auch, von Panik getrieben, im Laufschritt nahm er seinen Weg über den schmalen Damm und
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