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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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zuschauen müssen, wie seine junge Frau vor seinen Augen starb? Man zeige ihm die Philosophen, die darauf eine Antwort wussten – erst dann würde er anfangen, einen Sinn in ihren Worten zu finden.
    Sabina hatte sich immer gewünscht, am Golf von Neapolis Ferien zu machen, und er hatte sie stets vertröstet und gesagt, er hätte zu viel zu tun. Und jetzt war es zu spät. Kummer über seinen Verlust und Bedauern über das, was er unterlassen hatte, diese beiden Quälgeister fielen plötzlich wieder über ihn her und höhlten ihn aus, wie sie es immer taten. Er spürte eine Leere in der Magengrube, die fast körperlich war. Während er die Küste betrachtete, fiel ihm wieder ein Brief ein, den ihm ein Freund am Tag von Sabinas Bestattung gezeigt hatte; er kannte ihn auswendig. Der Jurist Servius Sulpicus war vor mehr als einem Jahrhundert gramgebeugt von Asien nach Rom zurückgekehrt und an der Küste des Mittelmeers entlanggesegelt. Hinterher beschrieb er Cicero, der gerade gleichfalls seine Tochter verloren hatte, seine Gefühle: »Hinter mir Aegina, vor mir Megara, rechts Piraeus, links Corinthus, einst blühende Städte, die jetzt vor unseren Augen in Trümmern liegen, und ich dachte: ›Wie können wir uns beklagen, wenn einer von uns stirbt oder getötet wird, kurzlebige Geschöpfe, die wir sind, während sich dort drüben die Leichname so vieler Städte türmen? Nimm dich zusammen, Servius, und bedenke, dass du als Sterblicher geboren wurdest. Kann dich der Verlust der schwachen Seele einer einzigen armen kleinen Frau so stark berühren?‹«
    Mehr als zwei Jahre später lautete für Attilius die Antwort auf diese Frage immer noch: Ja.
     
    Er ließ zu, dass die Wärme eine Zeit lang in seinen Körper und in sein Gesicht eindrang, und musste wider Willen eingeschlafen sein, denn als er die Augen wieder aufschlug, war die Stadt verschwunden und eine weitere riesige Villa schlummerte im Schatten ihrer weit ausladenden Pinien; Sklaven bewässerten den Rasen und schöpften Blätter von der Oberfläche des Schwimmbeckens ab. Er schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, und griff nach dem Ledersack, der alles enthielt, was er brauchte – Plinius' Brief an die Ädilen von Pompeji, einen kleinen Beutel mit Goldmünzen und die Karte der Augusta.
    Arbeit war immer ein Trost. Er entrollte die Karte und breitete sie über seine Knie. Plötzlich war ihm sehr unwohl zumute. Die Proportionen der Karte stimmten, wie ihm jetzt bewusst wurde, ganz und gar nicht mit der Wirklichkeit überein. Sie vermittelte keinen Eindruck von den gewaltigen Ausmaßen des Vesuv, den die Minerva noch nicht passiert hatte und der, wie jetzt der Augenschein ergab, einen Durchmesser von sieben oder acht Meilen haben musste. Was auf der Karte wie eine bloße Daumenbreite aussah, war in Wirklichkeit ein mehrstündiger Marsch in der staubigen Gluthitze der Sonne. Er machte sich Vorwürfe wegen seiner Naivität – dass er sich in der behaglichen Atmosphäre von Plinius' Bibliothek damit gebrüstet hatte, was er tun könne, ohne sich zuvor mit den tatsächlichen Gegebenheiten vertraut zu machen. Der typische Fehler eines Anfängers.
    Er stand auf und wanderte hinüber zu den Männern, die im Kreis hockten und würfelten. Corax hatte den Becher mit der Hand abgedeckt und schüttelte ihn heftig. Er schaute nicht auf, als Attilius' Schatten auf ihn fiel. »Los, Fortuna, du alte Hure«, murmelte er und ließ die Würfel rollen. Er warf nur Einsen – einen Hund – und stöhnte. Becco stieß einen Freudenschrei aus und strich das Häufchen Kupfermünzen ein.
    »Mein Glück war gut«, sagte Corax, »bis er aufgetaucht ist.« Er zeigte mit dem Finger auf Attilius. »Der ist schlimmer als ein Rabe, Leute. Ich sage euch – der bringt uns allen den Tod.«
    »Nicht wie Exomnius«, sagte Attilius, nachdem er sich neben ihnen niedergelassen hatte. »Der hat bestimmt immer gewonnen.« Er nahm die Würfel in die Hand. »Wem gehören die?«
    »Mir«, sagte Musa.
    »Wisst ihr, was? Lasst uns ein anderes Spiel spielen. Wenn wir in Pompeji sind, muss Corax sofort zur entgegengesetzten Seite des Vesuv aufbrechen und nach dem Leck in der Augusta suchen. Jemand muss ihn begleiten. Wie wär's, wenn ihr um dieses Privileg würfeln würdet?«
    »Wer gewinnt, geht mit Corax!«, rief Musa.
    »Nein«, sagte Attilius. »Derjenige, der verliert.«
    Alle lachten, nur Corax nicht.
    »Derjenige, der verliert«, wiederholte Becco. »Das ist gut!«
    Einer nach dem anderen

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