Pompeji
und schlangen sie rasch um die Steinpolier. Einen Augenblick später strafften sich die Taue, und mit einem Ruck, der Attilius fast von den Füßen riss, kam die Minerva zum Halten.
Er sah es, sobald er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte: einen großen, schlichten Steinsockel mit einem Neptunskopf, aus dessen Mund sich Wasser in ein Becken ergoss, das die Form einer Austernschale hatte. Das Becken floss über – er würde das Bild nie vergessen –, und das Wasser rann über die Pflastersteine in die See. Niemand stand Schlange, um zu trinken. Niemand schenkte dem Brunnen irgendwelche Beachtung. Weshalb auch? Es war nur ein alltägliches Wunder. Er sprang über die tiefe Seite des Kampfschiffes an Land und schwankte auf den Brunnen zu; nach der Fahrt über den Golf fühlte sich der Boden seltsam fest an. Er ließ seinen Sack fallen und streckte die Hände in den klaren Wasserstrahl, legte sie becherförmig zusammen, hob sie an die Lippen. Es schmeckte süß und sauber, und er hätte vor Freude und Erleichterung am liebsten laut gelacht. Dann hielt er den Kopf unter das Rohr und ließ das Wasser überallhin strömen – in seinen Mund, in seine Nase, in seine Ohren, über seinen Nacken – ohne Rücksicht auf die Leute, die ihn anstarrten, als hätte er den Verstand verloren.
Hora quarta
[09.48 Uhr]
»Die Untersuchung von Isotopen neapolitanischen Vulkanmagmas hat Hinweise darauf geliefert, dass es sich mit dem umliegenden Gestein vermischt hat, was die Vermutung nahe legt, dass die Kammer keine einheitliche geschmolzene Masse enthält. Man könnte die Kammer vielleicht mit einem Schwamm vergleichen, bei dem das Magma durch zahlreiche Risse im Gestein sickert. Die massive Magmaschicht könnte sich in verschiedene kleinere Kammern ausbreiten, die sich näher an der Oberfläche befinden und zu klein sind, als dass man sie mit seismischen Techniken identifizieren könnte …«
Zeitschrift der American Association for the Advancement of Science, »Massive Magmaschicht breitet sich im Vesuv aus«
16. November 2001
Im Hafen von Pompeji konnte ein Mensch alles kaufen, was er brauchte. Gemüse, Obst und Getreide, Amphoren mit Wein und Kisten mit Gebrauchsgeschirr kamen auf Schuten aus dem Hinterland den Fluss herab und vermischten sich mit der Flut von Luxusartikeln, die auf dem großen imperialen Handelsweg aus Alexandria eintrafen. Ein indischer Papagei, ein nubischer Sklave, Salpeter aus den Teichen in der Nähe von Kairo, chinesischer Zimt, ein afrikanischer Affe, asiatische Sklavenmädchen, die berühmt waren für ihre sexuellen Tricks … Pferde waren so zahlreich wie die Fliegen. Ein halbes Dutzend Händler lungerte vor dem Zollschuppen herum. Gleich vorne, saß einer auf einem Schemel unter einem Schild mit dem unbeholfen gemalten Bild des geflügelten Pegasus und der Aufschrift »Baculus: Pferde, schnell genug für die Götter«.
»Ich brauche fünf«, erklärte Attilius dem Händler. »Aber keine von deinen halbtoten Kleppern. Ich will gute, starke Tiere, die imstande sind, den ganzen Tag zu arbeiten. Und ich brauche sie sofort.«
»Das ist kein Problem, Bürger.« Baculus war ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit dem ziegelroten Gesicht und den glasigen Augen eines Trinkers. Er trug einen Eisenring, der für seinen Finger zu groß war und an dem er nervös herumspielte. »In Pompeji ist nichts ein Problem, vorausgesetzt, du hast genügend Geld. Aber ich verlange ein Pfand. Erst vorige Woche wurde eines meiner Pferde gestohlen.«
»Außerdem brauche ich Ochsen. Zwei Gespanne und zwei Karren.«
»An einem Feiertag?« Er schnalzte mit der Zunge. »Das dürfte etwas länger dauern.«
»Wie lange?«
»Lass mich überlegen.« Baculus blinzelte in die Sonne. Je schwieriger er es klingen ließ, desto mehr konnte er verlangen. »Zwei Stunden. Vielleicht auch drei.«
»Einverstanden.«
Sie feilschten um den Preis, wobei der Händler eine unverschämte Summe verlangte, die Attilius sofort durch zehn teilte. Trotzdem war er, als sie sich endlich die Hand darauf gaben, sicher, dass er übers Ohr gehauen worden war, was ihn ärgerte, so wie ihn jede Art von Verschwendung ärgerte. Aber er hatte keine Zeit, auf die Suche nach einem besseren Geschäft zu gehen. Er wies den Händler an, vier der Pferde sofort zum Vesuvius-Tor zu bringen, dann bahnte er sich zwischen den Kaufleuten hindurch seinen Weg zurück zur Minerva.
Inzwischen war der Besatzung erlaubt worden, an Deck zu kommen. Die
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