Pompeji
landeinwärts auf den Hauptstrang der Augusta traf. Attilius fragte sich, wo genau das sein mochte, und wünschte, er wüsste mehr über das Land und die Beschaffenheit von Gestein und Erde. Aber Campania war ihm völlig unbekannt.
Er ging durch das schattige Tor, trat hinaus in das Gleißen des kleinen Platzes, und plötzlich überfiel ihn der Gedanke, dass er in einer fremden Stadt völlig allein war. Was kümmerte Pompeji die Krise außerhalb seiner Mauern? Das hektische Treiben auf dem Platz schien es darauf anzulegen, ihn zu verspotten. Er ging an der Seite des Castellum aquae entlang und durch die kurze Gasse, die zu seinem Eingang führte. »Ist jemand da?«
Keine Antwort. Jetzt konnte er das Brausen des Aquädukts wesentlich deutlicher hören, und als er die niedrige Holztür aufstieß, überfielen ihn die durchnässende Gischt und dieser intensive, raue, süße Geruch, der ihm seit seiner Kindheit vertraut war – der Geruch von frischem Wasser auf warmem Stein.
Er ging hinein. Lichtfinger von zwei kleinen, hoch über seinem Kopf eingelassenen Fenstern durchschnitten die kühle Dunkelheit. Aber er brauchte kein Licht, um zu wissen, wie das Castellum gebaut war, denn im Laufe der Jahre hatte er Dutzende gesehen – alle identisch, alle nach den Prinzipien des Vitruv gebaut. Der Tunnel der Abzweigung nach Pompeji war enger als der des Hauptstrangs der Augusta, aber immer noch weit genug, dass sich ein Mann hindurchzwängen und Reparaturen vornehmen konnte. Das Wasser schoss durch ein Bronzegitter in ein flaches, durch Holztore unterteiltes Becken, von dem drei große Bleirohre abgingen. Das mittlere Rohr würde die Trinkbrunnen speisen, das linke die Privathäuser und das rechte die öffentlichen Bäder und Theater. Das einzig Ungewöhnliche war die Stärke, mit der das Wasser hereinströmte. Es durchnässte nicht nur die Mauern, sondern hatte auch einen Haufen Abfälle durch den Tunnel gespült, die jetzt hinter dem Metallgitter festsaßen. Er konnte Blätter und Zweige erkennen und sogar ein paar kleine Felsbrocken. Schlampige Wartung. Kein Wunder, dass Corax gesagt hatte, der Wassersklave sei nutzlos.
Er schwang erst ein Bein über die Mauer des Reservoirs und dann das andere, dann ließ er sich in das strudelnde Becken hineingleiten. Das Wasser reichte ihm fast bis zur Taille. Es fühlte sich an, als stünde man in warmer Seide. Er watete die paar Schritte bis zu dem Gitter und tastete auf der Suche nach seinen Befestigungen unter Wasser den Rand des Gitterrahmens ab. Als er die Schrauben gefunden hatte, drehte er zwei von ihnen heraus. Zwei weitere befanden sich am oberen Ende. Er löste auch sie, hob das Gitter heraus und trat beiseite, damit der Unrat an ihm vorbeirauschen konnte.
»Ist da jemand?«
Die Stimme kam völlig unerwartet. Ein junger Mann stand im Eingang. »Natürlich ist hier jemand, du Dummkopf. Siehst du das nicht?«
»Was tust du hier?«
»Bist du der Wassersklave? Dann tue ich hier, was eigentlich deine Arbeit gewesen wäre. Warte auf mich.« Attilius setzte das Gitter wieder ein, befestigte es, watete an den Rand des Reservoirs und kletterte heraus. »Ich bin Marcus Attilius, der neue Aquarius der Augusta. Und wie nennt man dich außer fauler Dummkopf?«
»Tiro, Aquarius.« Die Augen des Jungen waren vor Angst weit aufgerissen, und seine Pupillen zuckten von einer Seite zur anderen. »Verzeih mir.« Er fiel auf die Knie. »Der Feiertag, Aquarius – ich habe länger geschlafen – ich …«
»Schon gut. Lassen wir das.« Der Junge war nur etwa sechzehn Jahre alt – ein kleines Kerlchen, so mager wie ein streunender Hund –, und Attilius bedauerte seine Grobheit. »Steh auf. Du musst mich zu den Magistraten bringen.« Er streckte ihm die Hand entgegen, aber der Junge ignorierte sie, und seine Augen flackerten immer noch wild hin und her. Attilius schwenkte die Hand vor Tiros Gesicht. »Du bist blind?«
»Ja, Aquarius.«
Ein blinder Führer. Kein Wunder, dass Corax gelächelt hatte, als Attilius sich nach ihm erkundigte. Ein blinder Führer in einer feindseligen Stadt! »Aber wie kommst du deinen Pflichten nach, wenn du nicht sehen kannst?«
»Ich kann besser hören als andere Leute.« Trotz seiner Angst sprach Tiro mit einem Anflug von Stolz. »Ich kann am Rauschen des Wassers hören, wie gut es fließt und ob es blockiert ist. Ich kann es riechen. Ich kann Verunreinigungen schmecken.« Er hob den Kopf und roch die Luft. »Heute brauche ich die Tore nicht zu verstellen.
Weitere Kostenlose Bücher