Pompeji
taumelte er, wie zuvor, als die Minerva anlegte, und musste nach Tiros Arm greifen, um nicht zu fallen. Ein paar Leute schrien, ein Pferd scheute. An der anderen Ecke der Straßenkreuzung glitt ein Ziegel von einem steilen Dach und zerschellte auf der Straße. Ein paar Momente lang herrschte im Zentrum von Pompeji fast absolute Stille. Dann setzte allmählich das Treiben wieder ein. Angehaltener Atem wurde ausgestoßen. Unterhaltungen wurden wieder aufgenommen. Der Fahrer ließ seine Peitsche über dem Rücken des verängstigten Pferdes knallen, und der Karren rumpelte vorwärts.
Tiro nutzte die kurze Ruhe im Verkehr, lief auf die andere Straßenseite, und nach kurzem Zögern folgte Attilius. Er rechnete jeden Moment damit, dass die großen, erhabenen Trittsteine unter seinen Sohlen nachgaben. Dieses Gefühl machte ihn nervöser, als er sich einzugestehen wagte. Wenn man nicht einmal dem Grund trauen konnte, auf dem man stand, wem oder was konnte man dann trauen?
Der Sklave wartete auf ihn. Seine toten Augen, ununterbrochen auf der Suche nach dem, was er nicht sehen konnte, verliehen ihm einen Ausdruck ständigen Unbehagens. »Keine Angst, Aquarius. Das passiert diesen Sommer ständig. Fünf oder sogar zehn Mal an den letzten beiden Tagen. Die Erde beschwert sich über die Hitze!«
Er bot ihm die Hand, aber Attilius ignorierte sie – er fand es entwürdigend, dass der Blinde dem Sehenden Mut zusprach – und erklomm ohne Hilfe den hohen Gehsteig. Gereizt sagte er: »Wo ist denn nun dieses verdammte Haus?«, und Tiro deutete vage auf einen Eingang einige Schritte weiter unten auf der anderen Straßenseite.
Das Haus sah nicht sehr beeindruckend aus. Die üblichen kahlen Wände. Eine Bäckerei auf einer Seite und eine Schlange von Leuten, die darauf warteten, einen Süßwarenladen betreten zu können. Der Gestank nach Urin von der Wäscherei gegenüber, wo Töpfe zum Hineinpinkeln auf dem Gehsteig standen (nichts reinigte Kleidungsstücke gründlicher als menschlicher Urin). Neben der Wäscherei ein Theater. Über der großen Tür des Hauses sah er eine weitere der allgegenwärtigen roten Wahlproklamationen: »SEINE NACHBARN EMPFEHLEN DIE WAHL VON LUCIUS POPIDIUS SECUNDUS ZUM ÄDILEN: ER WIRD SICH ALS WÜRDIG ERWEISEN.« Allein hätte er das Haus nie gefunden.
»Aquarius, darf ich dich etwas fragen?«
»Was?«
»Wo ist Exomnius?«
»Das weiß niemand, Tiro. Er ist verschwunden.«
Der Sklave nahm das Gesagte in sich auf, dann nickte er langsam. »Exomnius war wie du. Er konnte sich auch nicht an das Wackeln gewöhnen. Er sagte, es erinnerte ihn an die Zeit vor dem großen Erdbeben vor vielen Jahren. In dem Jahr, in dem ich geboren bin.«
Tiro schien den Tränen nahe. Attilius legte ihm eine Hand auf die Schulter und musterte ihn. Der Junge wusste etwas. »Exomnius war kürzlich in Pompeji?«
»Natürlich. Er hat hier gewohnt.«
Attilius packte fester zu. »Er hat hier gewohnt? In Pompeji?«
Er war verblüfft und begriff trotzdem sofort, dass das stimmen musste. Es erklärte, warum er in Exomnius' Quartier in Misenum so wenige persönliche Besitztümer gefunden hatte, warum Corax nicht gewollt hatte, dass er hierher kam, und warum sich der Aufseher in Pompeji so seltsam benommen hatte – all dieses Umschauen und Absuchen der Menge nach einem vertrauten Gesicht.
»Er hatte Zimmer in Africanus' Haus«, sagte Tiro. »Er war nicht immer hier. Aber oft.«
»Und wann hast du das letzte Mal mit ihm gesprochen?«
»Ich kann mich nicht erinnern.« Jetzt machte der Junge tatsächlich einen verängstigten Eindruck. Er drehte den Kopf, als versuchte er, Attilius' Hand auf seiner Schulter zu sehen. Attilius gab ihn rasch frei und klopfte ihm beruhigend auf den Arm.
»Versuch dich zu erinnern, Tiro. Es könnte wichtig sein.«
»Ich weiß es nicht.«
»War es nach dem Neptun-Fest oder vorher?« Die Neptunalia wurden am dreiundzwanzigsten Tag des Juli gefeiert, für die Männer der Aquädukte der heiligste Tag des Jahres.
»Danach. Bestimmt. Vor vielleicht zwei Wochen.«
»Zwei Wochen? Dann musst du einer der Letzten gewesen sein, die mit ihm gesprochen haben. Und er machte sich Sorgen wegen der Erschütterungen?« Tiro nickte wieder. »Und Ampliatus? Er war ein enger Freund von Ampliatus, stimmt's? Waren die beiden oft zusammen?«
Der Sklave deutete auf seine Augen. »Ich kann nicht sehen …«
Nein, dachte Attilius, aber ich wette, du hast sie gehört; deinen Ohren entgeht nicht viel. Er blickte über die
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