Pompeji
Ich habe das Wasser noch nie so stark fließen hören.«
»Das stimmt.« Attilius nickte; er hatte den Jungen unterschätzt. »Der Hauptstrang ist irgendwo zwischen hier und Nola blockiert. Deshalb bin ich hier. Ich brauche Hilfe für die Reparatur. Du gehörst der Stadt?« Tiro nickte. »Wer sind die Magistrate?«
»Marcus Holconius und Quintus Brittius«, sagte Tiro. »Die Ädilen sind Lucius Popidius und Gaius Cuspius.«
»Wer ist für die Wasserversorgung zuständig?«
»Popidius.«
»Wo finde ich ihn?«
»Heute ist Feiertag …«
»Und wo wohnt er?«
»Geradeaus den Berg hinunter, Aquarius, in Richtung Stabiae-Tor. Auf der linken Seite. Direkt hinter der großen Straßenkreuzung.« Tiro kam eifrig auf die Füße. »Ich kann dich hinführen, du wirst es sehen.«
Sie gingen gemeinsam in die Stadt hinunter. Pompeji breitete sich unter ihnen aus, ein Gewirr von Ziegeldächern, das sich bis ans Ufer der funkelnden See hinzog. Links wurde die Sicht vom blauen Kamm der Halbinsel Surrentum begrenzt, rechts von der baumbestandenen Flanke des Vesuv. Attilius fiel es schwer, sich einen idealeren Ort für eine Stadt vorzustellen, hoch genug über dem Golf, um von einer gelegentlichen Brise durchweht zu werden, nahe genug an der Küste, um vom Mittelmeerhandel zu profitieren. Kein Wunder, dass sie sich von dem Erdbeben so schnell erholt hatte.
Die Straße war mit Häusern gesäumt, nicht ausufernden Wohnblocks wie in Rom, sondern schmalen, fensterlosen Behausungen, die dem hektischen Verkehr dem Rücken zuwandten und sich von innen zu betrachten schienen. Durch offen stehende Türen konnte man gelegentlich einen Blick auf das erhaschen, was dahinter lag – kühle Dielen mit Mosaikfußböden, ein sonniger Garten, ein Springbrunnen –, aber davon abgesehen waren das Einzige, was die Monotonie der kahlen Mauern unterbrach, mit roter Farbe aufgemalte Wahlaufrufe.
»DIE GESAMTE BEVÖLKERUNG IST MIT DER KANDIDATUR VON CUSPIUS FÜR DAS AMT DES ÄDILEN EINVERSTANDEN.«
»DIE OBSTHÄNDLER ZUSAMMEN MIT HELVIUS VESTALIS BEFÜRWORTEN EINMUTIG DIE WAHL VON MARCUS HOLCONIUS PRISCUS ZUM MAGISTRAT MIT RICHTERLICHEN BEFUGNISSEN.«
»DIE ANBETER DER ISIS EMPFEHLEN EINSTIMMIG DIE WAHL VON LUCIUS POPIDIUS SECUNDUS ZUM ÄDILEN.«
»Deine ganze Stadt scheint nichts anderes im Kopf zu haben als Wahlen. Das ist ja schlimmer als in Rom.«
»Die freien Männer stimmen immer im März über die neuen Magistrate ab, Aquarius.«
Sie gingen rasch, Tiro immer ein paar Schritte vor Attilius. Sie bahnten sich ihren Weg auf dem überfüllten Gehsteig, und hin und wieder wichen sie in die Gosse aus und wateten durch das dort fließende Wasser. Attilius musste Tiro bitten, etwas langsamer zu gehen. Tiro entschuldigte sich. Er sei von Geburt an blind, erzählte er heiter; auf der Müllkippe außerhalb der Stadtmauer war er ausgesetzt worden, aber jemand hatte ihn gefunden, und seit seinem sechsten Lebensjahr hatte er davon gelebt, Botengänge für die Stadt zu erledigen. Er fand seinen Weg instinktiv.
»Dieser Ädil, Popidius«, sagte Attilius, als sie zum dritten Mal auf seinen Namen stießen. »Er muss zu der Familie gehören, die einst Ampliatus als Sklaven besaß.«
Aber trotz der Schärfe seines Gehörs schien Tiro diese Bemerkung nicht gehört zu haben.
Sie kamen zu einer großen Straßenkreuzung mit einem riesigen, auf vier Marmorsäulen ruhenden Triumphbogen. Ein Gespann von vier in Stein erstarrten, vorwärts stürmenden Pferden, die die Statue der Victoria in ihrem goldenen Wagen zogen, zeichnete sich vor dem strahlend blauen Himmel ab. Das Monument war einem weiteren Holconius gewidmet – Marcus Holconius Rufus, seit sechzig Jahren tot –, und Attilius blieb lange genug stehen, um die Inschrift zu lesen: Heerestribun, Augustus-Priester, fünfmal Magistrat, Schutzherr der Stadt.
Immer dieselben paar Namen, dachte er, Holconius, Popidius, Cuspius … Die gewöhnlichen Bürger mochten jedes Frühjahr ihre Togen anlegen, hinausgehen und sich die Reden anhören, ihre Täfelchen in die Urnen werfen und eine neue Gruppe Magistrate wählen. Trotzdem tauchten die vertrauten Gesichter immer und immer wieder auf. Attilius hatte für Politiker genauso wenig übrig wie für Götter.
Er war gerade im Begriff, seinen Fuß abzusetzen, um die Straße zu überqueren, zog ihn aber plötzlich zurück. Er hatte das Gefühl, dass die großen Trittsteine leicht wogten. Eine starke Trockenwelle wanderte durch die Stadt. Eine Sekunde später
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