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Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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davon, und dann noch einer. Sie wäre gern geblieben und hätte allen nachgeschaut; stattdessen schloss sie die Läden.
    Sie hatte ihrer Sklavin befohlen, mit den anderen aufs Forum zu gehen. Der Gang vor ihrem Zimmer war leer, und ebenso die Treppe und der Garten, in dem ihr Vater das geführt hatte, was er für ein heimliches Gespräch hielt. Rasch durchquerte sie ihn, wobei sie sich für den Fall, dass ihr jemand begegnete, dicht bei den Säulen hielt. Sie ging durch das Atrium ihres alten Hauses in Richtung Tablinum, in dem ihr Vater nach wie vor seine Geschäfte abwickelte; Tag für Tag erhob er sich in der Morgendämmerung, um seine Kunden zu begrüßen, die er entweder einzeln oder in Gruppen empfing, bis die Gerichte öffneten, dann eilte er zu weiteren Geschäften auf die Straße hinaus, mit der üblichen Schar ängstlicher Bittsteller im Gefolge. Es war ein Symbol von Ampliatus' Macht, dass der Raum nicht nur die übliche eine, sondern drei Kassetten enthielt, aus dickem Holz angefertigt, mit Messing beschlagen und mit Eisenstäben im Steinfußboden verankert.
    Corelia wusste, wo er die Schlüssel aufbewahrte, denn in glücklicheren Tagen – oder war es lediglich eine List gewesen, um seinen Besuchern zu beweisen, was für ein reizender Mensch er war? – war es ihr gestattet gewesen, hereinzukommen und ihm zu Füßen zu sitzen, während er arbeitete. Sie öffnete die Schublade des kleinen Pults, und da waren sie.
    Der Kasten mit den Papieren befand sich in der zweiten Kassette. Sie hielt sich nicht damit auf, die kleinen Papyri zu entrollen, sondern stopfte sie einfach in die Taschen ihres Umhangs; dann verschloss sie die Kassette und legte die Schlüssel wieder an ihren Platz. Der riskanteste Teil war erledigt, und sie gestattete sich ein wenig Entspannung. Für den Fall, dass sie angehalten wurde, hatte sie eine Geschichte parat – es gehe ihr wieder besser, und sie habe beschlossen, sich doch ihrer Familie auf dem Forum anzuschließen. Aber niemand begegnete ihr. Sie ging über den Hof, stieg die Treppe hinunter, am Schwimmbecken mit seiner leise plätschernden Fontäne vorbei und dann durch das Speisezimmer, in dem sie dieses grässliche Mahl ertragen hatte, und um die Kolonnaden herum zum rot ausgemalten Wohnzimmer der Popidii. Bald würde sie die Herrin von alledem sein – ein fürchterlicher Gedanke.
    Ein Sklave entzündete einen der Messing-Kandelaber, wich aber respektvoll an die Wand zurück, um sie vorbeizulassen. Durch einen Vorhang. Eine weitere, schmalere Treppe. Plötzlich befand sie sich in einer anderen Welt – niedrige Decken, grob verputzte Mauern, Schweißgeruch: die Unterkünfte der Sklaven. Irgendwo konnte sie zwei Männer reden hören, das Klappern von Eisentöpfen und dann, zu ihrer Erleichterung, das Wiehern eines Pferdes.
    Die Ställe befanden sich am Ende des Ganges, und es war, wie sie vermutet hatte: Ihr Vater hatte sich dafür entschieden, seine Gäste in Sänften auf das Forum zu befördern, und alle Pferde zurückgelassen. Sie streichelte die Nase ihres Lieblings, einer braunen Stute, und flüsterte mit ihr. Sie zu satteln war Sache der Sklaven, aber sie hatte ihnen oft genug zugesehen, um zu wissen, wie man es tat. Als sie den Ledergurt unter dem Bauch des Pferdes stramm zog, bewegte es sich ein wenig und trat gegen die Holzwand der Box. Sie hielt den Atem an, aber niemand kam.
    Sie flüsterte: »Ganz ruhig, Mädchen, ich bin's. Alles in Ordnung.«
    Die Stalltür öffnete sich auf eine Nebenstraße. Jedes Geräusch kam ihr erschreckend laut vor: das Klirren der Eisenstange, als sie sie anhob, das Knarren der Angeln, das Klappern der Hufe der Stute, als sie sie auf die Straße hinausführte. Ein Mann eilte auf dem Gehsteig an der anderen Straßenseite vorbei und warf ihr einen Blick zu, blieb aber nicht stehen – vermutlich war er spät dran auf seinem Weg zu dem Opferfest. Aus der Richtung des Forums kamen Musikklänge und dann ein leises Dröhnen, das sich anhörte wie das Brechen einer Welle.
    Sie schwang sich auf das Pferd. Kein schicklicher, femininer Damensitz heute Abend. Sie spreizte die Beine und nahm den Sitz eines Mannes ein. Das Gefühl grenzenloser Freiheit hätte sie fast überwältigt. Diese Straße – diese ganz gewöhnliche Straße mit ihren Schuhmacher- und Schneiderläden, die sie so oft entlanggegangen war – war zum Rand der Welt geworden. Sie wusste, wenn sie noch länger zögerte, würde die Panik von ihr Besitz ergreifen. Sie drückte die Knie

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