Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Pompeji

Pompeji

Titel: Pompeji Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
Man war von Geburt an daran gekettet wie an einen fahrenden Karren. Am Ziel der Reise ließ sich nichts ändern, nur an der Art, wie man sie unternahm: ob man sich dafür entschied, aufrecht zu gehen oder sich klagend durch den Staub schleifen zu lassen.
    Dennoch war ihm elend zumute, als er ihr nachschaute. Die Sonne schien immer heller auf die Landschaft, während sich der Abstand zwischen ihnen vergrößerte, sodass er sie lange Zeit beobachten konnte, bis die Pferde schließlich in einem Olivenhain verschwanden und sie endgültig fort war.
     
    In Misenum lag Plinius in seinem fensterlosen Schlafzimmer auf der Matratze und erinnerte sich.
    Er erinnerte sich an die ebenen, schlammigen Wälder im Norden Germaniens und an die großen Eichen, die an der Küste des Mare Germanicum wuchsen – sofern man in einer Gegend, in der es praktisch keine Grenze zwischen Land und Meer gab, überhaupt von einer Küste sprechen konnte –, an den Regen und den Wind und an die Art, wie sich die Bäume bei Sturm manchmal unter fürchterlichem Splittern aus dem Ufer lösten, mit gewaltigen Inseln aus Erde zwischen den Wurzeln, und aufrecht, die Äste ausgebreitet wie eine Takelage, auf die zerbrechlichen römischen Galeeren zutrieben. In Gedanken konnte er immer noch das Wetterleuchten sehen, den dunklen Himmel und die bleichen Gesichter der Chauken-Krieger zwischen den Bäumen, er konnte den Schlamm und den Regen riechen, das Entsetzen spüren, wenn die Bäume auf die vor Anker liegenden Schiffe stürzten und seine Männer in diesem schmutzigen Barbarenmeer ertranken …
    Er schauderte und öffnete in dem schwachen Licht die Augen, setzte sich auf und wollte wissen, wo er war. Sein Sekretär, der mit einer Kerze und erhobenem Griffel neben seinem Lager saß, senkte den Kopf auf sein Wachstäfelchen.
    »Wir waren bei Domitius Corbulo, Herr«, sagte Alexion, »als du bei der Reiterei warst und gegen die Chauken gekämpft hast.«
    »Auch ja. Stimmt. Die Chauken. Ich erinnere mich.«
    Aber woran erinnerte er sich? Der Befehlshaber versuchte seit Monaten, seine Memoiren zu schreiben – sein letztes Buch, da war er sicher –, und die Wiederaufnahme der Arbeit war eine willkommene Ablenkung von der Krise des Aquädukts. Aber das, was er gesehen und getan hatte, und das, was er gelesen hatte oder was ihm erzählt worden war, schienen in letzter Zeit wie ein saumloser Traum miteinander zu verschwimmen. Was er nicht alles erlebt hatte! Die Kaiserinnen – Lollia Paulina zum Beispiel, Caligulas Gemahlin, die bei ihrem Hochzeitsgastmahl wie eine Fontäne im Kerzenschein gefunkelt und das Licht von Perlen und Smaragden im Wert von vierzig Millionen Sesterzen versprüht hatte. Und die Kaiserin Agrippina, mit dem sabbernden Claudius vermählt; er hatte sie in einem Umhang aus purem Gold vorbeigehen sehen. Natürlich hatte er auch gesehen, wie im Norden von Hispania Gold gefördert wurde, als er dort Statthalter gewesen war – die Männer, die den Berg abtrugen, an Seilen hängend, sodass sie aus einiger Entfernung aussahen wie riesige Vögel, die auf das Gestein einhackten. So viel Arbeit, so viel Gefahr – und wozu? Die arme Agrippina: Hier, in dieser Stadt, war sie ermordet worden von Ancietus, seinem Vorgänger als Befehlshaber der Flotte, auf Befehl des Kaisers Nero, der seine Mutter in einem lecken Boot aufs Meer hinausschickte und sie, als es ihr gelang, das Ufer zu erreichen, von Seesoldaten erstechen ließ. Geschichten! Das war sein Problem. Er kannte zu viele Geschichten, um sie in einem Buch unterbringen zu können.
    »Die Chauken …« Wie alt war er damals gewesen? Vierundzwanzig? Es war sein erster Feldzug gewesen. Er setzte wieder an: »Soweit ich mich erinnere, lebten die Chauken auf hohen Plattformen aus Holz, um vor den tückischen Gezeiten dieser Gegend sicher zu sein. Sie sammelten mit den bloßen Händen Schlamm, den sie im eisigen Nordwind gefrieren ließen und dann als Brennstoff benutzten. Sie tranken nur Regenwasser, das sie in Zisternen vor ihren Häusern sammelten – ein eindeutiges Anzeichen für ihren Mangel an Zivilisation. Verdammte, jämmerliche Bastarde, diese Chauken.« Er hielt inne. »Lass den letzten Satz aus.«
    Die Tür wurde kurz geöffnet, und ein Balken aus grellweißem Licht fiel herein. Er hörte das Rauschen des Mittelmeers, das Gehämmer in den Werften. Also war es bereits Morgen. Er musste schon seit Stunden wach sein. Die Tür wurde wieder geschlossen, ein Sklave näherte sich auf Zehenspitzen

Weitere Kostenlose Bücher