Pompeji
dem Sekretär und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Plinius rollte seinen unförmigen Körper auf die Seite, um mehr sehen zu können. »Wie spät ist es?«
»Ende der ersten Stunde, Herr.«
»Sind die Schleusen im Reservoir bereits geöffnet worden?«
»Ja, Herr. Wir erhielten die Nachricht, dass der Rest des Wassers abgeflossen ist.«
Plinius stöhnte und ließ sich wieder auf sein Kissen sinken.
»Und es sieht so aus, als sei gerade eine höchst bemerkenswerte Entdeckung gemacht worden.«
Der Arbeitstrupp brach etwa eine halbe Stunde nach Corelia auf. Es gab kein großes Abschiednehmen: Die Angst hatte auch auf Musa und Corvinus übergegriffen, und alle wollten so schnell wie möglich in die Sicherheit von Pompeji zurückkehren. Sogar Brebix, der einstige Gladiator, der ungeschlagene Held von dreißig Kämpfen, richtete seine kleinen, dunklen Augen nervös auf den Vesuv. Sie machten im Tunnel Ordnung und verluden das Werkzeug, die unbenutzten Ziegelsteine und die leeren Amphoren auf der Ladefläche der Karren. Schließlich schaufelten zwei der Sklaven Erde über die Überreste der Feuerstellen und deckten die grauen Zementnarben ab. Als sie fertig waren, sah es aus, als wären sie nie hier gewesen.
Attilius stand mit verschränkten Armen neben dem Inspektionsschacht und ließ sie bei ihren Aufbruchsvorbereitungen nicht aus den Augen. Jetzt, wo die Arbeit erledigt war, bestand für ihn die größte Gefahr. Es wäre typisch für Ampliatus gewesen, dass er den Wasserbaumeister bis zum letzten Moment ausnutzte, bevor er sich seiner entledigte. Er war bereit für einen Kampf und würde, wenn es sein musste, sein Leben so teuer wie möglich verkaufen.
Musa hatte das einzige andere Pferd, und als er im Sattel saß, rief er zu Attilius hinunter: »Kommst du mit?«
»Nein. Ich hole euch später ein.«
»Warum kommst du nicht gleich mit?«
»Weil ich vorher auf den Berg hinauf will.«
Musa musterte ihn verblüfft. »Warum?«
Eine gute Frage. Weil die Antwort auf das, was hier unten passiert ist, da oben liegen muss. Weil es meine Aufgabe ist, das Wasser am Laufen zu halten. Weil ich Angst habe. Attilius zuckte die Achseln. »Neugier. Mach dir keine Sorgen, ich habe mein Versprechen nicht vergessen, falls es das ist, was dich bekümmert. Hier.« Er warf Musa seinen Lederbeutel zu. »Ihr habt gut gearbeitet. Kauf den Männern Wein und etwas zu essen.«
Musa öffnete den Beutel und betrachtete seinen Inhalt. »Das ist eine Menge, Aquarius. Das reicht auch noch für eine Frau.«
Attilius lachte. »Gute Heimkehr, Musa. Wir sehen uns bald wieder. Entweder in Pompeji oder in Misenum.«
Musa warf ihm einen weiteren Blick zu und schien im Begriff zu sein, noch etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders. Er schwenkte herum und ritt den Karren nach, und Attilius war allein.
Wieder fiel ihm die eigentümliche Stille des Tages auf. Es war, als hielte die Natur den Atem an. Das Knarren der schweren Holzräder verklang in der Ferne, und alles, was er danach noch hören konnte, waren das gelegentliche Läuten einer Ziegenglocke und das ununterbrochene Zirpen der Zikaden. Die Sonne stand inzwischen schon sehr hoch. Er ließ den Blick über die leere Landschaft schweifen, dann legte er sich auf den Bauch und spähte in den Schacht hinein. Die Hitze drückte schwer auf seinen Rücken und seine Schultern. Er dachte an Sabina und Corelia und an das grauenhafte Bild seines toten Sohns. Er weinte. Er versuchte nicht, sich Einhalt zu gebieten, sondern ließ ausnahmsweise seinen Gefühlen freien Lauf, zitterte und erstickte fast vor Kummer, atmete die Tunnelluft, sog den kalten und bitteren Geruch des frischen Zements ein. Er fühlte sich seltsam von sich selbst losgelöst, als wäre er in zwei Personen gespalten, eine, die weinte, und eine zweite, die ihm beim Weinen zuschaute.
Nach einer Weile hörte er auf zu weinen und stand auf, um sich das Gesicht an der Tunika abzuwischen, und erst, als er noch einmal hinabschaute, wurde sein Blick von etwas angezogen – einem Schimmern von reflektiertem Licht in der Dunkelheit. Er zog den Kopf ein Stückchen zurück, damit die Sonne in den Schacht scheinen konnte, und er sah, wenn auch sehr undeutlich, dass der Boden des Aquädukts glänzte. Er rieb sich die Augen und schaute noch einmal hinunter. Noch während er das tat, schien sich die Qualität des Lichts zu verändern und an Substanz zu gewinnen, sich zu bewegen und zu verbreitern, während sich der Tunnel mit Wasser
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