Poor Economics
nötigen geistigen Freiraum gibt, sich mit anderen Dingen zu beschäftigen als der reinen Existenzsicherung. Häufig wehren sich Ökonomen gegen diese Vorstellung, aus dem nachvollziehbaren Grund, dass gute Jobs in der Regel teure Jobs sind, und teure Jobs heißt meistens weniger Jobs. Aber wenn gute Jobs bedeuten, dass Kinder in einem Umfeld aufwachsen, in dem sie ihre Talente frei entfalten können, dann ist es das vielleicht wert, ein paar Jobs weniger zu schaffen.
Die meisten guten Jobs gibt es in der Stadt. Deshalb kann Umziehen der erste Schritt hin zu einem besseren Leben sein. Im Sommer 2009 unterhielten wir uns in einem Slum der indischen Stadt Hyderabad mit einer Mittfünfzigerin. Sie erzählte uns, sie sei nie zur Schule gegangen, und ihre Tochter, die sie mit 16 bekommen hatte, habe die Schule nach der dritten Klasse verlassen und bald geheiratet. Aber ihr zweiter Sohn, erwähnte sie fast beiläufig, studierte für den M.C.A. Wir hatten noch nie von einem
M.C.A. gehört, und fragten sie, was das sei (wir vermuteten dahinter eine Form der Berufsausbildung). Sie wusste es nicht, dann aber tauchte ihr Sohn auf und erklärte uns, das sei ein Master of Computer Applications (Angewandte Informatik). Davor hatte er schon seinen Bachelor in Computer Science (Informatik) gemacht. Sein älterer Bruder hatte ebenfalls einen Collegeabschluss und einen Bürojob in einem privaten Unternehmen. Der Jüngste ging noch auf die Highschool und wollte sich fürs College bewerben. Sie hofften, ihn zum Studieren nach Australien schicken zu können, wenn sie einen der Vorzugskredite für Muslime erhielten.
Was war in dieser Familie geschehen, nachdem die erste Tochter die Schule abgebrochen und der erste Sohn die Highschool abgeschlossen hatte? Was hatte die Zukunftsaussichten der jüngeren Kinder so verändert? Der Vater war bei der Armee gewesen und in Ruhestand getreten, dank seiner alten Beziehungen fand er eine Anstellung als Wachmann bei einer Firma in Hyderabad. Weil er jetzt einen Job hatte, der keine häufigen Ortswechsel notwendig machte, ließ er seine gesamte Familie in die Stadt nachkommen (mit Ausnahme der Tochter, die bereits verheiratet war). In Hyderabad gibt es eine ganze Reihe guter und bezahlbarer Schulen für muslimische Kinder; das ist dem Umstand zu verdanken, dass der heutige Bundesstaat Hyderabad bis 1948 ein relativ unabhängiger Fürstenstaat mit einem muslimischen Herrscher war. Die Söhne wurden auf diese Schulen geschickt und entwickelten sich prächtig.
Warum tun das nicht viel mehr Leute? Schließlich sind die Schulen in den meisten Städten besser als die auf dem Land, auch in solchen, die keine so spezielle Geschichte haben wie Hyderabad. Und die Armen (vor allem die armen jungen Männer) ziehen auf der Suche nach einem Job sowieso weg. Von 60 Prozent der Familien, die wir im ländlichen Udaipur interviewten, hörten wir, dass im letzten Jahr mindestens ein Angehöriger in einer Stadt gearbeitet hatte. Aber nur wenige wandern für längere Zeit ab, im Durchschnitt (Median) bleiben sie für einen Monat weg,
nur 10 Prozent kommen erst nach mehr als drei Monaten zurück. Die meisten Migranten lassen ihre Familien zurück. Üblicherweise sind sie für ein paar Wochen weg zum Arbeiten und dann wieder ein paar Wochen zu Hause. Eine dauerhafte Abwanderung, selbst innerhalb desselben Landes, kommt relativ selten vor: Der Anteil sehr armer Haushalte, in denen ein Familienmitglied andernorts geboren und der Arbeit wegen dauerhaft abgewandert war, lag in unserem 18-Länder-Vergleich bei gerade einmal 4 Prozent in Pakistan, bei 6 Prozent an der Elfenbeinküste und in Nicaragua und bei fast 10 Prozent in Peru. Eine Folge dieser zeitweiligen Migration ist, dass solche Arbeiter für ihre Arbeitgeber niemals so wichtig werden, dass man ihnen eine feste Stelle oder irgendeine Art von Weiterbildung anbietet; sie bleiben ihr ganzes Leben lang Gelegenheitsarbeiter. Aus diesem Grund ziehen ihre Familien nie in die Stadt und kommen nie in den Genuss besserer Schulen und des beruhigenden Gefühls, das eine feste Anstellung mit sich bringt.
Wir fragten einen Bauwanderarbeiter aus dem indischen Bundesstaat Orissa, der gerade zu Hause bei seiner Familie war, warum er nicht länger in der Stadt bleibe. Er sagte, weil er seine Familie nicht mitnehmen könne, die Wohnbedingungen seien zu ungesund. Andererseits wolle er aber auch nicht zu lange von ihr getrennt sein. In den meisten Städten in Entwicklungsländern
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