Poor Economics
Gesundheitszentren gibt es typischerweise keinen Arzt, sondern nur speziell ausgebildete Gesundheitshelfer, die einfache Erkrankungen behandeln können und Kranke – wenn sie etwas Schwerwiegenderes vermuten – an die nächsthöhere Ebene verweisen. In manchen Ländern krankt dieses System an einem Mangel an qualifiziertem Personal, doch in Indien existieren die Einrichtungen und die Arbeitsplätze sind besetzt. Selbst im besonders abgelegenen und dünn besiedelten Distrikt Udaipur muss eine Familie nur 2,5 Kilometer zurücklegen, um ein Unterzentrum mit einer ausgebildeten Krankenschwester zu erreichen. Und doch zeigen unsere Daten, dass das System nicht funktioniert: Die Armen machen in der Regel einen Bogen um die kostenlose öffentliche Gesundheitsversorgung. Ein Erwachsener aus den von uns befragten extrem armen Haushalten sucht im Schnitt einmal alle zwei Monate einen Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen auf, doch weniger als ein Viertel dieser Besuche gilt einem staatlichen Gesundheitszentrum. 21 In mehr als der Hälfte der Fälle geht man zu einer privaten Praxis und in allen übrigen zu bhopas, traditionellen Heilern, die vor allem das Austreiben von bösen Geistern anbieten.
Die Armen in Udaipur scheinen sich in jeder Hinsicht für die teurere Alternative zu entscheiden: Heilbehandlung statt Vorsorge, privat zu zahlende Doktoren statt kostenloser staatlicher Krankenschwestern und Ärzte. Das könnte man noch verstehen, wenn die privaten Anbieter besser ausgebildet wären als die staatlichen, aber das ist meist nicht der Fall: Nur etwas mehr als die Hälfte dieser privaten Doktoren hat einen medizinischen Collegeabschluss, darunter so unkonventionelle wie den Bachelor of Ayurvedic Medical Science (BAMS) oder den Bachelor of Unani Medical Science (BUMS), ein Drittel besitzt überhaupt keinen Collegeabschluss. Und wenn man sich die Assistenten solcher Doktoren ansieht, die in der Regel ebenfalls Patienten behandeln, wird das Bild noch düsterer: Zwei Drittel von ihnen verfügen über keinerlei medizinische Ausbildung. 22
Im Volk nennt man diese Pseudoärzte bengali doctors, weil eine der ersten indischen Medizinschulen in Bengalen stand und die dort ausgebildeten Ärzte sich überall in Nordindien niederließen, um zu praktizieren. Diese Tradition hat sich gehalten – in den Dörfern tauchen regelmäßig Leute auf, mit wenig mehr ausgerüstet als einem Stethoskop und einer Tasche voller Standardmedikamente, und lassen sich als bengali doctors nieder, unabhängig davon, ob sie aus Bengalen kommen oder nicht. Einen von ihnen haben wir interviewt und nach seinem Werdegang befragt: »Nach meinem Highschoolabschluss habe ich keinen Job gefunden«, erklärte er, »deshalb beschloss ich, Doktor zu werden.« Dann gewährte er uns einen Blick auf sein Highschooldiplom: Er hatte Geographie, Psychologie und Sanskrit studiert, die Sprache des alten Indiens. Doch die bengali doctors gibt es nicht nur auf dem Land, eine Studie zeigt, dass nur 34 Prozent der Doktoren in den Slums von Delhi über eine medizinische Ausbildung verfügen. 23
Ein fehlender Abschluss ist natürlich nicht zwangsläufig gleichbedeutend mit einem Mangel an Befähigung: Selbstverständlich können diese Doktoren gelernt haben, wie man einfache Fälle behandelt und die übrigen an ein richtiges Krankenhaus verweist. Ein anderer bengali doctor, mit dem wir sprachen (und der tatsächlich aus Bengalen kam), machte sehr deutlich, dass er seine Grenzen kannte. Er gab Schmerztabletten und Malariamittel aus, manchmal auch Antibiotika, wenn er glaubte, die Erkrankung könnte darauf ansprechen. Doch sobald er den Verdacht hatte, es könnte etwas Komplizierteres sein, verwies er die Patienten an ein Gesundheitszentrum oder an ein privates Krankenhaus.
Leider findet man diese Art der realistischen Selbsteinschätzung keineswegs überall. Jishnu Das und Jeff Hammer, zwei Ökonomen der Weltbank, wollten herausfinden, wie viel die Doktoren tatsächlich wissen und können. 24 Im Großraum Delhi suchten sie sich Doktoren aller Art (qualifizierte und unqualifizierte, aus privaten und staatlichen Einrichtungen). Jedem präsentierten sie fünf hypothetische Patientenszenarien, zum Beispiel
ein Kind mit Durchfallsymptomen. Bei lehrbuchgemäßem Vorgehen sollte der Arzt zunächst erfragen, ob das Kind hohes Fieber oder erbrochen hat, wird das verneint, können ernsthafte Erkrankungen ausgeschlossen werden, und es genügt, die Rehydrationslösung zu verordnen.
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