PopCo
«Ben?»
Er schlägt ein Bein über das andere und wechselt dann nochmal. «Dieser ganze Mist über Netzwerke und Phasentransformationen
und Viren. Ich weiß auch nicht. Irgendwie hat mich das aus der Spur gebracht.» Er mustert seine Hände. «Ist das richtig?»
«Ja, ich denke schon», sage ich, aber dann wird mir klar, dass er «richtig» nicht im Sinne von «korrekt» gemeint hat. Er fragt
sich, ob unser Projekt moralisch richtig ist. «Wir machen doch nur unsere Arbeit», sage ich. «Wir stellen die Regeln nicht
selber auf, und wir denken uns die Projekte auch nicht aus. Und wenn das, was wir machen, den Leuten nicht gefällt, dann werden
sie es nicht kaufen. Es ist ihre Entscheidung.»
«Ja, aber wir bekommen hier beigebracht, wie man Abhängigkeiten fördert. Wie man Lügen erzählt. Und Produkte dazu bringt,
sich wie Viren zu verbreiten …»
«Ja», sage ich stirnrunzelnd. «Ich weiß.»
«Wenn du das weißt, warum machst du es dann?»
«Hm …» Ich will ihm antworten, dass ich es mache, weil es eben unsere Aufgabe ist, weil wir nur aus diesem Grund hier sind. Aber
das hört sich plötzlich irgendwie falsch an. So bin ich nicht – ich habe noch nie bereitwillig getan, was man mir sagt. Der
wahre Beweggrund ist allerdings fast noch schlimmer. «Für mich ist es eine Herausforderung», sage ich schließlich. «Ich befasse
mich gern mit richtig komplizierten Problemen, ich habe Spaß daran, die Lösung für ein Rätsel zu finden. Das hört sich jetzt
sicher seltsam an …»
«Ach herrje.» Jetzt runzelt er die Stirn. «Wahrscheinlich löst du dann auch gerne Kreuzworträtsel.»
«Früher habe ich sogar selbst welche gebastelt. Davon habe ich gelebt, bevor mir der Job hier bei PopCo angeboten wurde.»
Ich schaue starr zu Boden. Der Bettvorleger auf den Bodendielen hat ein interessantes Ziegelmuster, gleichmäßige geometrische
Formen.
«Du wurdest geheadhuntet, nicht?»
«Woher weißt du das denn?»
«Hat mir irgendwer erzählt. Dann fanden die bei PopCo also, dass dein Talent zum Rätsellösen genau das ist, was sie brauchen.
Interessant …»
«Du bist plötzlich so komisch», sage ich. Das stimmt auch. Er benimmt sich, als wäre ich ein Geheimnis, dem er auf den Grund
gehen muss.
«Was? Ach so. Entschuldige.» Ben schüttelt den Kopf. «Es war nicht nur der Workshop heute. Irgendwie fühle ich mich …»
«Was ist denn los? Was ist passiert?»
«Ach, auf dem Weg zurück vom Segeln habe ich mich ein bisschen verlaufen, und plötzlich stand ich in diesem seltsamen Kids-Labor
hinten auf dem Gelände. Warst du da schon mal?»
«Nicht direkt, nein. Ich bin nicht über die Cafeteria hinausgekommen.»
«Mann.» Er zündet sich eine Zigarette an. «Das hat mir irgendwie den Rest gegeben. Da war dieser Typ, Oscar heißt er. Er leitet
das Labor, und als er mich da rumirren sah, hat er mir angeboten, mich herumzuführen. Ich hatte ja keine Ahnung, was die da
machen.»
«Ich wette, sie haben diese schrecklichen Einwegspiegel …»
«Ja. Das ist schon schlimm genug. Aber dann haben sie noch so ein Zimmer, das aussieht wie – ich kann’s nicht anders sagen
– wie ein Pädophilen-Wartezimmer. Das war mein erster Gedanke, als ich es gesehen habe. Ich dachte:
So sieht ein Zimmer aus, wo kleine Kinder darauf warten müssen, von perversen alten Kerlen gefickt zu werden.
Es war richtig furchtbar. Alles ganz sauber und ordentlich, lauter Kisten mit Spielzeug und diesem sorgfältig ausgewählten
Kram, mit dem Kinder traditionell gern spielen: alte Socken, leere Spülmittelflaschen und solche Sachen. Spielmatten auf dem
Boden und Sitzsäcke und ein Kühlschrank voll Limonade und Obst. Oscar hat mir erzählt, dass sie die Kinder während des Schuljahrs
mit Bussen aus den nächstgelegenen Orten herkarren, um Produkte zu testen. Und wenn wie jetzt Ferien sind, bieten sie ärmeren
Großstadtkindern einen ‹Gratis-Urlaub›, wenn die dafür an Fokusgruppen teilnehmen. Das Zimmer wird entsprechend umgeräumt,
je nachdem, was gerade getestet werden soll; manchmal haben die Kinder nur PopCo-Spielsachen zur Verfügung, manchmal nur irgendwelche
anderen Sachen, und manchmal eben beides. Angenommen, so ein Kind spielt lieber mit einer alten Socke als mit Sailor Sam oder
mit dem Kaugummibaum oder was wir sonst noch produzieren – dann wollen die Marktforscher natürlich gleich wissen, warum. Und
anschließend schmieden sie Pläne für neue Produkte,
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