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Kopf, ein bisschen so wie bei der Menge aller Mengen.
«Genau», sagt meine Großmutter. «Gödel hat den Beweis geführt, dass man die gesamte Mathematik als Paradoxon betrachten kann,
so wie den Satz ‹Alle Kreter sind Lügner›. Mathematik ist ein selbstreferenzielles System; sie stellt ihre eigenen Regeln
auf, daher befürchtet man schon lange, dass sie vielleicht auf einer ganz grundlegenden Ebene Fehler oder Widersprüche enthalten
könnte. Gödel hat das bewiesen – natürlich auf sehr viel kompliziertere Weise. Wenn du mir versprichst, gut darauf aufzupassen,
leihe ich dir ein Buch darüber. Es enthält auch einen Zahlencode, den Gödel erfunden hat. Der wird dich sicher sehr interessieren.»
Zahlencodes und Paradoxa in einem! Ist das aufregend! Und es erinnert mich daran, dass ich unbedingt bald mit der Arbeit am
Stevenson-Heath-Manuskript weitermachen sollte. Vorher muss ich allerdings noch diese Angst loswerden.
***
Wir haben unsere Segelstunde erst um drei, und so gehe ich nach dem Mittagessen auf mein Zimmer, um nachzusehen, ob jenes
mysteriöse Wesen, dem Hiro meine Nachricht überbracht hat, schon darauf geantwortet hat. Aber ich finde nichts. Seltsam, wie
schnell man sich manchmal an etwas gewöhnt. Der Gedanke, dass jemand einfach so in mein Zimmer spazieren und dort etwas hinterlassen
oder mitnehmen könnte, stört mich längst nicht mehr so sehr, wie er vielleicht sollte. Meine Kreditkarten und andere wichtige
Gegenstände sind an einem Ort verstaut, wo sie diesmal ganz sicher keiner finden wird, und mein Medaillon trage ich an seiner
Kette um den Hals. Zu Hause sähe ich das vermutlich auch anders, aber das Zimmer hier gehört mir ja nicht. Es ist nur ein
temporärer Aufenthaltsort.
Außerdem ist sowieso nichts zu sehen. Nichts hat sich verändert, seit ich am Morgen gegangen bin. Ich stelle meine Tasche
ab und nehme mein Exemplar der schmalen, weichen Spielkartenpäckchen heraus, die Kieran beim Frühstück verteilt hat. Ich habe
immer noch keine Ahnung, was ich damit soll, aber der Grünmann gefällt mir. Er erinnert mich an etwas. Irgendein altes Buch?
Natürlich: das Voynich-Manuskript. Und all die Hunderte, wenn nicht gar Tausende anderer Bücher, die ich gewälzt habe, auf
der Suche nach einem Anhaltspunkt, was dieser Text bedeuten könnte. Die Lösung haben wir trotzdem nie gefunden. Soviel ich
weiß, versuchen bis heute alle möglichen Leute, diese seltsame Schrift und die Illustrationenzu entschlüsseln. Vielleicht beschäftige ich mich eines Tages ja selbst wieder damit, doch ohne meinen Großvater erscheint
mir das irgendwie sinnlos. Wenn ich des Rätsels Lösung fände, wäre ja doch keiner da, dem ich davon erzählen könnte – nicht
einmal, wenn ich der ganzen Welt davon berichten würde.
Viele meiner Interessen und ein großer Teil meines Allgemeinwissens gehen ganz direkt auf die Arbeit am Voynich-Manuskript
zurück. Um meinem Großvater bei seinen Forschungen zu helfen, habe ich mich als Kind mit Pflanzen, Kräutern und Kunstgeschichte
beschäftigt. Er bat mich beispielsweise, ihm eine Liste der lateinischen und der gebräuchlichen Namen sämtlicher blau blühender
Blumen zusammenzustellen oder herauszufinden, wann in der Kunst erstmals zwei Farben gleichzeitig verwendet wurden. Je älter
ich wurde, desto spezifischer wurde mein Wissen und desto mehr trug es zu meiner eigenen Arbeit am Manuskript bei. Nach dem
Tod meiner Großmutter brauchten mein Großvater und ich alle Ablenkung, die wir kriegen konnten. Als sie «fort» war (verschieden,
verblichen, von uns gegangen – nur nie
gestorben
), zogen wir nach London, weil wir all den leeren Raum in unserem alten Haus nicht mehr ertragen konnten. Wir ließen ihn einfach
hinter uns.
In London entwickelte ich ein brennendes Interesse an Kräuterheilkunde und Homöopathie. Zum Teil lag das sicher daran, dass
das Voynich-Manuskript mit seinen Pflanzen- und anderen Abbildungen einfach sehr an ein medizinisches Handbuch erinnert und
ich überzeugt war, auf diese Weise doch noch Zugang zu dem darin enthaltenen Material zu bekommen. Mein Großvater hatte mir
beigebracht, dass man, um ein Dokument zu entschlüsseln, vor allem zum Experten für das dahinter vermutete Fachgebiet werden
muss, weil man sonst die Leerstellen nicht füllen kann, die sich zwangsläufig ergeben. Er hatte mir erzählt, meine Großmutter
hätte in ihrer Zeit in BletchleyPark beispielsweise eine
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