PopCo

sogar zu wissen glaubt, wann
     genau man sterben wird), ist homöopathisches Aconitum möglicherweise das geeignete Mittel dagegen. Das ist das Geheimnis der
     Homöopathie:
Similia similibus curantur
. Ähnliches wird durch Ähnliches geheilt. Und da das Plötzliche zu den wesentlichen Eigenschaften von Aconitum gehört, raten
     viele Homöopathen dazu, es bei den ersten Anzeichen einer Erkältung einzunehmen, wenn man gerade noch ganz entspannt und guter
     Dinge war und sich plötzlich von einer Sekunde auf die andere fühlt, als hätte man Rasierklingen verschluckt und anstelle
     eines Kopfes einen prallgefüllten Luftballon auf den Schultern. Ich habe eine recht hohe Potenz Aconitum bei mir, C1000, und
     rechne mir gute Chancen aus, die Sache noch abwenden zu können.
    Was braucht man für einen Tag im Moor? Kurz schießen mir Bilder von Marmeladengläsern mit Drahthenkeln, Lupen und in Pergamentpapier
     gewickelten belegten Broten durch den Kopf. Aber nein, ich bin ja erwachsen. Ich werde meine Notfallausrüstung mitnehmen,
     eine Flasche Mineralwasser und vielleicht noch ein Lunchpaket aus der Küche, je nachdem, ob die anderen das auch machen. Offiziell
     sollen wir nur einen Kompass und ein Notizbuch mitbringen. Der Kompass ist Teil meiner Notfallausrüstung, und mein Notizbuch
     habe ich sowieso immer dabei. Ob ich damit erwachsen genug ausgestattet bin? Sicher bin ich mir da nicht.
    Der Gedanke an die Notfallausrüstung durchzuckt mich wie ein Stromschlag aus dem Alltag und ruft mir die Welt jenseits von
     PopCo Towers wieder in Erinnerung. Plötzlich frage ich mich, wie es Atari wohl bei Rachel geht und ob ihm die Fahrt auf Firmenkosten
     zu ihr gefallen hat. Wenn ich nicht hier beidiesem seltsamen Projekt wäre, würde ich jetzt wohl am Entwurf für mein Survivaltrainings-Set sitzen, das ich eigentlich am
     Montag präsentieren sollte. Wer weiß, wann das jetzt stattfinden wird. Wie viel Zeit muss ich da überhaupt noch investieren?
     Ich bin nicht mehr im Überlebenstrainingsmodus, habe komplett auf dieses Projekt hier umgeschaltet, was immer am Ende dabei
     herauskommen mag. Bin ich womöglich durch eine Tür getreten, die sich nur in eine Richtung öffnen lässt? Kann ich jemals wieder
     zurück? Ich lasse Aufgaben nicht gern unerledigt, weil ich immer die unterschwellige Befürchtung habe, sie nicht mehr fertig
     machen zu können. Und jetzt kann ich mich nicht mal mehr richtig erinnern, worum es eigentlich beim Überlebenstraining ging.
     Lieber Himmel.
    Bevor ich mein Zimmer verlasse, überzeuge ich mich noch einmal, dass keine Botschaften oder Briefe gekommen sind. Ich finde
     nichts. In etwa zwanzig Minuten bin ich mit Ben, Kieran und den anderen vor der Sporthalle verabredet, ich sollte mich also
     langsam auf den Weg machen. Ich habe mich zu einem Umweg entschlossen, weil die Leute einen immer gern zu Spielchen auffordern,
     wenn sie einem zufällig begegnen, und ich wirklich keine Lust auf Kierans Kartenspiel habe (das inzwischen auf den Namen
Jack
getauft wurde). Ich fühle mich einfach zu unwohl und halsschmerzig heute, um mich mit so was abzugeben.
    Und so schleiche ich herum wie ein komischer Kauz und wähle einen Weg, von dem ich glaube, dass ihn sonst keiner nehmen wird:
     durch den unteren Teil des Gartens, am Parkplatz vorbei, dann am Waldrand entlang. In meiner Handtasche habe ich noch ein
     paar Echinacea-Pastillen gefunden, widerstehe aber noch der Versuchung, eine zu lutschen, weil sie Menthol enthalten. Anfang
     des 20.   Jahrhunderts waren Homöopathen wie James Tyler Kent der Ansicht, dass Menthol (beziehungsweise Kampfer) und auch Kaffee die
     homöopathischeMedikation negativ beeinflussen könnten. Ich weiß nicht recht, ob ich das glauben soll, doch diesmal will ich kein Risiko
     eingehen.
    Ich denke an Kent und frage mich gleichzeitig, ob ich noch eine Dosis Aconitum nehmen soll. Man soll die Einnahme nicht zu
     früh wiederholen, vor allem nicht, wenn das Medikament wirkt. Wirkt mein Aconitum schon? Keine Ahnung. Ganz in Gedanken versunken,
     merke ich erst gar nicht, dass Georges mir mit raschem Schritt entgegenkommt. Als ich ihn dann doch bemerke, hüpft mein Magen
     wie bei einer besonders wilden Achterbahnfahrt. Ich habe gar nicht auf seinen Brief und die Visitenkarte reagiert. Ach doch,
     ja. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich habe beides verbrannt. Ich habe seine Handynummer verbrannt, die ich jetzt nie wieder
     bekommen kann, außer von ihm. Was ist eigentlich los