PopCo
Raumschiff.»
Damit macht sie mich erst mal sprachlos. Das habe ich nicht gewusst. Während ich mir noch ausmale, mit einem Raumschiff Richtung
Zukunft zu düsen, an einen Ort, wo die Frauen silberne Miniröcke tragen und kegelförmige Brustpanzer, geht meine Großmutter
zum Plattenspieler und legt eine Bachplatte auf.
Als wir später bei der Suppe sitzen, löchere ich sie mit Fragen nach Zeitreisen und den Paradoxa, die daraus entstehen können.
Anscheinend beziehen sich die meisten Paradoxa auf Zeitreisen in die Vergangenheit und darauf, etwas zu verändern, was bereits
geschehen ist. Wenn man in die Zukunft reist, entsteht kein Paradoxon – es sei denn, man kehrt wieder zurück.
«Eins steht fest», sagt meine Großmutter. «Einsteins Universum ist ein Einbahnstraßensystem.» Darüber muss mein Großvater
schallend lachen.
«Dann müssen wir wohl eine Umgehungsstraße finden», bemerkt er und lacht noch ein bisschen mehr.
Hier im Dorf wurde kürzlich ein Einbahnstraßensystem eingeführt, über das die Erwachsenen aus irgendeinem Grund ständig witzeln.
Pläne für eine Umgehungsstraße gibt es auch schon – ein weiterer Anlass zum Witzeln. Ich verstehe gar nicht, was an Straßen
so lustig sein soll.
«Eine Umgehungsstraße», wiederholt meine Großmutter. «Hahaha …»
«Vielleicht ein Wurmloch?», sagt mein Großvater unvermittelt.
«Was ist das?», will ich wissen.
«Eine potenzielle Abkürzung durch die Zeit», sagt meine Großmutter zu mir und fährt dann fort, an meinen Großvater gewandt:
«Aber das ist doch Unsinn, Peter. Es liegt auf der Hand, dass Wurmlöcher gar nicht existieren können. Und selbst wenn es sie
gäbe, könnte man sie trotzdem nicht durchqueren.»
«Hmm», macht mein Großvater. Ich kenne dieses
Hmm
. Es heißt so viel wie:
Mathematisch gesehen vielleicht. Aber Gespenster und Telepathie lassen sich ja auch nicht mathematisch erklären
. Für so etwas interessiert er sich erst, seit wir mit der Arbeit am Voynich-Manuskript begonnen haben, und seither hat sich
die Vorstellung, dass es da draußen «Dinge» geben könnte, die sich mit unseren wissenschaftlichen Mitteln nicht fassen lassen,
bei ihm fast zur Besessenheit ausgewachsen. Ist das Voynich-Manuskript nur ein weiteres Mittel, oder ist es selbst so ein
«Ding»?
Plötzlich kommt mir der Gedanke, dass meine Großeltern völlig gegensätzliche Tätigkeiten ausüben. Er bewegt sich im Reich
des Vielleicht-doch-Möglichen, sie sich im Reich des Nicht-sehr-Wahrscheinlichen. Um voranzukommen, muss mein Großvater manchmal
Thesen formulieren, die in sich widersprüchlich oder richtiggehend absurd erscheinen. Was, wenn das Voynich-Manuskript von
Außerirdischen verfasst wurde? Was, wenn es gar nicht entschlüsselt werden soll? Was, wenn es aus der Zukunft zu uns gekommen
und in einer Sprache verfasst ist, die wir noch gar nicht kennen (ein weiterer Anlass für Gespräche über Zeitreisen)? Andererseits
arbeitet aber auch meine Großmutter den ganzen Tag mit imaginären Zahlen und einer sogenannten Zeta-Funktion. Vielleicht irre
ich mich auch. Vielleicht machen sie im Grunde doch das Gleiche: Bewaffnet mit ein paar erfundenen Geschichten und unsichtbaren
Theorien pirschen sie sich an unlösbare Probleme heran und versuchen, sie aus ihrem Versteck herauszulocken.Die Vorstöße meiner Großmutter ins Unbekannte sind nur manchmal etwas schwieriger zu begreifen.
Sie hat meinem Großvater inzwischen einen Vortrag über Wurmlöcher gehalten, jetzt reden sie über einen anderen Aspekt des
Zeitreisens, und sie erzählt von dem Mathematiker Gödel, den sie vor Jahren einmal kennengelernt hat. Als sie fertig ist,
schaut sie zu mir herüber.
«Wenn du dich wirklich für Paradoxa interessierst, Alice», sagt sie, «dann solltest du dir anschauen, was Gödel damit angestellt
hat.»
Mein Großvater wirft ihr einen seltsamen Blick zu.
«Was hat er denn angestellt?», frage ich.
«Das kann ich dir jetzt leider nicht in aller Ausführlichkeit erklären. Aber sagt dir das Lügnerparadox etwas?»
«‹Alle Kreter sind Lügner?›», frage ich. «Meinst du das?» Das Lügnerparadox gehört zu den ältesten Rätseln der Menschheit.
Der Kreter Epimenides macht die Aussage: «Alle Kreter sind Lügner.» Falls er damit die Wahrheit sagt, muss er lügen. Lügt
er aber, sagt er die Wahrheit, was wiederum bedeutet, dass er lügt. Von solchen Problemen kriege ich ein angenehmes Schwindelgefühl
im
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